800 Liter – jede Sekunde: Unablässig strömt das Flusswasser durch einen Durchlass des Stauwehrs in einen gemauerten Kanal. Das Nass gurgelt vorbei an Schatten spendenden Baumriesen, verzweigt sich in Erdkanäle, gluckert in die Weizenäcker, netzt den Knoblauch, tränkt die Tomaten, lässt die Kohlköpfe, gross wie Basketbälle, strotzen vor Saft und Kraft. Und überall in den Feldern und Gärten beugen sich schaffige Menschen über die jungen Pflanzen und Früchte: Ein Spaziergang im äthiopischen Distrikt Seka, entlang der neuen Bewässerungsanlage von Menschen für Menschen am Gibe-Flus
Wir gehen mit Ingenieur Kassahun entlang des Hauptkanals, mit dem Tempo des eilig fliessenden Wassers können wir nicht Schritt halten, dann sehen wir rechterhand die ersten grünen Äcker. Darin sind ganze Familien vom Kind bis zur Grossmutter verstreut und rupfen Unkraut. «Weizen!», sagt Ingenieur Kassahun: «Der ist neu hier in der Gegend.» Probepflanzungen in der vergangenen Saison waren ermutigend, zum Jahreswechsel 2021 haben nun rund 100 Familien das ungewohnte Korn gepflanzt. «Bevor unsere Anlage fertig war, bauten die Menschen nur Mais an», erklärt Kassahun.
Lange war der Spruch in den Köpfen der Menschen: «Mais ist Essen und Essen ist Mais.» Mais macht satt, Gemüse und alles andere ist – in der Not – verzichtbar. Doch abgesehen von der einseitigen Ernährung: Mais braucht 180 Tage von der Aussaat bis zur Ernte. Der Weizen dagegen nur 100 Tage – wenn er die richtige Menge an Wasser bekommt. «Also können die Menschen von Seka dank unserer Bewässerung künftig mindestens zwei Mal im Jahr ernten!», erklärt Kassahun. Der Weizen steht gut, er bringt Erträge von viereinhalb Tonnen pro Hektar – sehr viel mehr als die 2,7 Tonnen pro Hektar, die im äthiopischen Landesschnitt erreicht werden (In der Schweiz liegt der Ertrag bei rund sechs Tonnen pro Hektar).
Wir kommen an einem Aquädukt vorbei, das den Gibe River überquert und die Bewässerung auf der rechten Seite des Flusses möglich macht. Es ist ein schnörkelloses Zweck-Bauwerk, das umgerechnet 12’000 Franken gekostet hat. Die Preise für Stahl und Zement sind immer weiter gestiegen in den vergangenen Jahren, angefeuert durch chinesische Investitionen in den Städten. «In Seka gibt es auch keinen vernünftigen Sand für den Beton», erklärt der Ingenieur. «Wir mussten ihn teuer auf Lastwagen über eine Entfernung von 300 Kilometern herankarren». Aber das Bauwerk ist aller Mühen wert: Es erschliesst 80 Hektar Land für die Bewässerungslandwirtschaft, etwa 240 Familien profitieren davon.
Am Aquädukt teilt sich der Hauptkanal in einen linken und rechten Zweigkanal. Insgesamt sind die Kanäle rund zwölf Kilometer lang, sie bewässern 200 Hektar. 600 Haushalte können die Infrastruktur nutzen. Wir bleiben auf der linken Seite des Flusses, spazieren weiter entlang des Wasserlaufs, bis wir auf einem Feld junge Bananenstauden erblicken, dazwischen steht Mafus Abarasched, 30. «Wir sind sehr froh», sagt der sehnige Mann. «Wir essen jetzt schon deutlich besser. Und wir gehen guten Zeiten entgegen. In einigen Jahren werde ich meine Kinder auf gute Schulen in Jimma senden.»
In der nahegelegenen Grossstadt wird er auch seine Bananen verkaufen. In drei Jahren werden die Stauden die ersten Büschel tragen. Bis dahin kann Mafus Abarasched an dem Gemüse verdienen, das er zwischen den Bananen pflanzt: Knoblauch, Zwiebeln, Chili, Tomaten – die ersten Setzlinge hat er von Menschen für Menschen erhalten. Die Bananen lassen sich auf dem Markt in Jimma für einen Birr pro Stück verkaufen, umgerechnet zwei Rappen. Die Kleinbauern sehen das als lohnendes Geschäft: Jedes Büschel besteht aus rund hundert Früchten, bringt also umgerechnet zwei Franken – der Tagelohn eines Hilfsarbeiters beträgt nur einen Franken. Seine Tomaten verkaufte Mafus in der ersten Bewässerungssaison für 150 Franken: «Früher habe ich mich als Tagelöhner durchgeschlagen, aber meine Zukunft sehe ich als Händler, denn durch meine Produkte bekomme ich jetzt Bargeld in die Hände.»
Auch die Lage der Familie ein paar hundert Meter weiter kanalabwärts hat sich verbessert, bestätigt Vater Ahmed Muhame. Mit Frau Fate, dem Buben Muas, 6, und dem Mädchen Fordosa, 3, ist er in seinem Bananengarten an der Arbeit. Auch sie haben Chili, Zwiebeln und Tomaten erhalten – und Kurse, wie man sie heranzieht. Früher sah ein typischer Speisezettel bei ihnen so aus: Morgens Mais, mittags Mais, abends Mais. «Jetzt essen wir besser. Auch Gemüse», sagt Ahmed Muhame. «Einen Teil davon verkaufen wir, können uns jetzt Linsen leisten und Injera», das säuerliche Fladenbrot in Äthiopien.
Auf dem Feld von Taha Ababor sehen wir einen Verschlag aus Ästen und Plastiksäcken. Dort verbringt der 35-Jährige derzeit die Nächte. Er verfügt über einen leichten Schlaf. Den braucht er, um die Antilopen vertreiben zu können, die es auf die saftigen, ballgrossen Kohlköpfe abgesehen haben, die bei ihm so prächtig gedeihen. «Die Schulungen im Gemüseanbau haben mir viel gebracht», sagt der Bauer. «Aber am allerwichtigsten ist für uns: Alle haben verstanden, wenn wir jetzt hart arbeiten, können wir wirklich viel erreichen.» Die «Veränderung der Denkweise» sei der Hauptvorteil: «Wir machen jetzt Anbauplanung. Wir pflanzen die Produkte auch nach dem Bedarf am Markt: Was bringt das beste Einkommen?»
Ähnlich sieht es Siraj Abagedi, 42, Vater dreier Kinder. «Neben dem Wasser hat uns das Projekt neue Methoden gebracht. Früher haben wir die Saat einfach ausgestreut. Jetzt pflanzen wir in Reihen.» Die Vorteile: «Wir sparen Saatgut. Wir können gezielter düngen und Wasser zuleiten.» Auch hätten sie früher Teile der Ernte sofort verkauft: «Wir wollten Bargeld in der Hand. So war die Kultur. Wir brauchen das Geld ja, um Waren des täglichen Bedarfs zu kaufen.» Jetzt aber würden sie sich einige Anschaffungen kurzfristig versagen und das Getreide für mehrere Monate lagern, weil der Preis dann steigt. «So können wir unseren Verdienst um ein Viertel steigern», sagt der Bauer: Wasser ist entscheidend für die Entwicklung der Kleinbauern von Seka. Aber nicht minder wichtig ist die Vermittlung von Wissen und Geschäftsbewusstsein.