Wie stellen wir sicher, dass unsere Hilfe zur Selbstentwicklung funktioniert? Wie erreichen wir Nachhaltigkeit? Das waren die Leitfragen für die Co-Geschäftsführer Claudio Capaul und Michael Kesselring auf ihrer jüngsten Monitoring-Reise in unsere Projektgebiete in Äthiopien.
Glitzernde Fassade
Addis Abeba heisst übersetzt «Neue Blume». Tatsächlich scheint die Millionenmetropole über Nacht erblüht zu sein: Die Bole Road ist binnen weniger Jahre zu einer Prachtstrasse geworden. Mit chinesischen Krediten bauten chinesische Baufirmen die Hauptverkehrsachse zwischen Flughafen und Stadt mit zusätzlichen Fahrspuren und sogar gut markierten Fahrradwegen aus, obwohl es bislang kaum Radfahrer gibt. Laternen und Neonreklamen leuchten den Boulevard auch nachts taghell aus. Mehr als 500 anliegende Gebäude und Häuser wurden renoviert: Äthiopien begrüsst seine Besucher mit neuem Selbstbewusstsein. Umso grösser ist der Kontrast, wenn man von der Prachtstrasse abfährt, in die dunklen Armenviertel, in denen Menschen für Menschen Projekte unterhält. Doch bevor die Co-Geschäftsführer unsere Projekte für arme Familien in den Slums der Hauptstadt besuchten, fuhren sie zunächst in den entlegenen Süden des riesigen Landes.
Starke Genossenschaften für Frauen
In Abaya tief im Süden wirkte Menschen für Menschen in drei dreijährigen Projektphasen, sorgte für grössere Ernten und Einkommensmöglichkeiten gerade für Frauen.
Unter anderem bauten unsere Fachleute in 31 Dörfern genossenschaftliche Spargruppen mit je rund 100 Mitgliedern auf. Nun haben sich diese rund 3000 Frauen zu einem Dachverband zusammengeschlossen. Unser Team besuchte die Einweihung des von Menschen für Menschen errichteten Büros des Verbandes in der Kleinstadt Gangua.
«Durch den Zusammenschluss sind die einzelnen Gruppen viel stärker», freut sich Zerthun Dea, die Geschäftsführerin des Dachverbands. «Jetzt können wir bei den Banken Kredite zu fairen Konditionen aufnehmen und an die Spargruppen in den Dörfern weitergeben.» Die Frauen finanzieren mit Mikrokrediten ihre kleinen Gewerbe. «Durch die Rückzahlungen mit fairen Zinsen wächst das gemeinsame Kapital der Frauen», erklärt Zerthun Dea. «Durch unser erworbenes Wissen und unsere wachsende Erfahrung schaffen wir es jetzt allein und ohne weitere Hilfe.»
Bei früheren Besuchen in den Anfangsjahren des Projekts ab 2016 hatte er Frauen aus den Spargruppen schüchtern und niedergeschlagen erlebt, erinnert sich Claudio Capaul. «Der Wandel jetzt ist frappierend», sagt der Co-Geschäftsführer. «Die Frauen sind selbstbewusst, jede will ihre Erfolgsgeschichte erzählen.» Es brauche lediglich die Organisation der Frauen in Spargruppen, wenige Schulungen und einen Mikrokredit von circa 80 Franken: «Damit können wir so eine nachhaltige Wirkung erzielen!»
Doppelte Ernte
Der Bezirk Hambela Wamena ist ungefähr so gross wie der Kanton Schwyz und seit Anfang 2024 ein neues Projektgebiet von Menschen für Menschen. Aus Armut essen die allermeisten Einwohner nur zwei Mal am Tag. In den Monaten vor der nächsten Ernte reduzieren viele Familien auf eine kleine Mahlzeit. Addisu Ware aber darf hoffen. Er erhielt eine Schulung, verbessertes Saatgut und Dünger auf Basis eines Mikrokredits. «Die Gerste steht sehr gut auf meinem Feld», freut sich der Kleinbauer.
Addisu Ware kann auf einer Fläche von 0,5 Hektar mit einer Ernte von 1800 Kilogramm des Grundnahrungsmittels rechnen – doppelt so viel wie sein Nachbar, der sein Feld mit herkömmlichem Saatgut und traditionellen Methoden bestellt. «Schon auf den ersten Blick sieht man den Unterschied», sagt Co-Geschäftsführer Michael Kesselring. Dass das Getreide von Addisu Ware üppiger wächst, liege nicht nur am Dünger: «Die Schulungen sind genauso wichtig.» Die Bauern lernen beispielsweise, welche Pflanzabstände optimal sind. «In der kommenden Saison gebe ich meinem Nachbarn Saatgut ab und zeige ihm die neuen Methoden», sagt Addisu Ware. «So zieht unsere Hilfe Kreise», zieht Michael Kesselring Bilanz.
Quell der Freude
Neben dem Nahrungsmangel ist der fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser eine Bedrohung für die Gesundheit und Entwicklung, gerade der Kleinkinder in Äthiopien. Kontaminiertes Wasser und daraus folgende Durchfallerkrankungen sind eine der häufigsten Todesursache bei Kindern unter fünf Jahren in Äthiopien. Pro Jahr sterben daran mehr als 25’000 Kinder. In Hambela Wamena hatte vor der Intervention von Menschen für Menschen nur eine von zehn Familien Zugang zu sicherem Trinkwasser. Deshalb baut Menschen für Menschen Quellfassungen. Wie segensreich diese Initiative ist, zeigte die Freude von hunderten Einwohnern, die zur Einweihung einer neuen Anlage kamen. «Rund 200 Familien haben jetzt sauberes Trinkwasser, auf Jahrzehnte hinaus», betont Claudio Capaul. «Die Einwohner haben ein Komitee organisiert, das für die Wartung zuständig ist. Und die Familien zahlen eine geringe monatliche Gebühr, mit der allfällige Reparaturen bezahlt werden können.»
Effizienz als Ziel
«Mit den Projektreisen können wir unseren Spenderinnen und Spendern nachweisen, wie effizient wir ihre Unterstützung einsetzen», sagt Michael Kesselring (im Bild vorne), der für das Fundraising und die Kommunikation des Hilfswerks zuständig ist: Die Baumassnahmen für sauberes Trinkwasser kosten lediglich 30 Franken pro Familie. «Es ist spannend, entwicklungspolitisches und betriebswirtschaftliches Wissen zu verbinden», ergänzt Claudio Capaul (rechts im Bild), der für die Planung der Projekte und das Controlling verantwortlich zeichnet. «Es geht darum, mit unseren knappen Mitteln das Leben von möglichst vielen Familien nachhaltig zum Guten zu verändern.» In Hambela Wamena wird Menschen für Menschen innerhalb von drei Jahren 16 Quellfassungen für mehr als 11'000 Menschen errichten.
Grössere Ernten, kleinere Familien
Die Erkundung des entlegenen Bezirks Raphe war die nächste Aufgabe. Dort erscheint die Landschaft üppig. Trotzdem kann die Landwirtschaft – als einziger Wirtschaftszweig – die Menschen nicht ernähren. Woran das liegt, erfuhren die Co-Geschäftsführer auf einer Einwohnerversammlung (das Foto von Michael Kesselring zeigt Claudio Capaul inmitten der Vertreter der Kleinbauern).
«Die Erwartungen bei solchen Treffen sind gross», erläutert Claudio Capaul. Beispielsweise heben die Einwohner hervor, dass es keine Allwetterstrassen gibt und die Kinder in Lehmhütten unterrichtet werden.» Ein kleines Hilfswerk könne aber nicht alle staatlichen Versäumnisse ausbügeln. «Einige Frauen betonten, dass viele Familien sehr kinderreich seien und das knappe Land sie nicht ernähren könne – das Problem der Überbevölkerung wird in den Bauerngemeinden erkannt», sagt Claudio Capaul.
Deshalb wolle Menschen für Menschen als erste Nichtregierungsorganisation in dem Bezirk nun untersuchen, ob ein ganzheitliches Projekt nachhaltige Hilfe bringen kann. Einerseits durch Förderung der Landwirtschaft mit Schulungen und neuen Anbausorten. Andererseits brauchen die Menschen die Möglichkeit, die Grössen ihrer Familien zu bestimmen, mit einem verbesserten Wissen und Zugängen zu Familienplanung.
Haus und Garten
Neben den ländlichen Projekten im Süden des Landes unterhält Menschen für Menschen ein grosses städtisches Kinderprojekt. Michael Kesselring berichtet aus Debre Berhan zwei Autostunden nördlich der Hauptstadt Addis Abeba: «Die 1200 ärmsten Kinder haben drei Jahre lang umfassende Lebensperspektiven erhalten – unter anderem erstellen wir auf kommunalem Grund Sozialwohnungen (rechts im Bild) nach lokalem Standard mit gemeinschaftlichen Sanitäranlagen und Kochstellen (in der linken Bildhälfte). Bereits 90 Familien konnten so in den vergangenen drei Jahren aus menschenunwürdigen Verschlägen ausziehen. Die meist alleinerziehenden Mütter erzählten, wie sehr sich ihr Leben durch die verbesserte Wohnsituation zum Positiven gewendet habe und wie froh sie jetzt seien, auch über die Hausgärten, mit denen sie die Ernährung ihrer Kinder ergänzen können.
Sie lebt den äthiopischen Traum
Die einstige Tagelöhnerin Asnaku Asfaw war vor neun Jahren eine der ersten Mütter, die im Projekt Schulungen und Mikrokredite bekamen. Mit dem Startkapital begann die Kleinunternehmerin nachts Injerra zu backen, das traditionelle Fladenbrot in Äthiopien, das in Hotels und Restaurants breiten Absatz fand. Dies war das Fundament für einen Laden des täglichen Bedarfs und ein kleines Baugeschäft ihres Mannes. Nach einigen Jahren konnte die Familie ein solides Haus bauen und teils untervermieten. Schliesslich erwarb die Familie auch ein Motorradtaxi, mit dem einer der Söhne jetzt zum Familieneinkommen beiträgt.
«Asnaku Asfaw war nur drei Jahre in unserem Projekt», erklärt Michael Kesselring. «Grosse Teile ihrer Entwicklung fanden danach statt.» Damit war die Förderung die Initialzündung für selbständiges Wachstum: «Ihr Beispiel zeigt, dass wir mit unseren kleinen Inputs ein Fundament für künftige Fortschritte legen.»
«Ohne Schulungen und erste Mikrokredite hätte ich das niemals geschafft», sagt Asnaku Asfaw. «Deshalb engagiere ich mich weiter in meiner Selbsthilfegruppe – als Mentorin für neue Mitglieder. Denn ich kann Vorbild sein und wertvolle Hilfestellungen geben.»
Gemeinschaftlich wachsen
Zurück in der Hauptstadt Addis Abeba besuchten die Co-Geschäftsführer Menschen, die im Schatten der neuen Prachtstrassen leben: In unserem Ernährungsprogramm für 150 unterernährte Kleinkinder erhalten besonders arme Mütter regelmässig Lebensmittelhilfen. Nach spätestens einem halben Jahr sind ihre Kinder normal gewichtig.
Bei wöchentlichen Gemeinschaftsessen bekommen die Kinder Milch und Gemüse. Gleichzeitig unterrichtet eine Ernährungsfachfrau die Mütter. Sie lernen, wie sie ihr weniges Geld optimal für eine ausgewogene Ernährung und damit die Entwicklung ihrer Kinder einsetzen.
«Das Ernährungsprogramm bringt akute Hilfe», erklärt Claudio Capaul. «Doch wir versuchen den Frauen auch langfristig zu helfen. Sie erhalten die Chance, in die halbjährige Berufsausbildung zur Hauswirtschafterin zu wechseln.» Die Abgängerinnen haben gute Chancen auf Anstellungen in Hotels, Kantinen, Restaurants und Privathaushalten.
Hilfe zur Selbstentwicklung
Die Projektreise zeigte, dass die «Hilfe zur Selbstentwicklung» funktioniert. «Aber Konzepte funktionieren nur, wenn die Menschen davon überzeugt sind: Wir erlebten Familien vor Ort, die nur auf Chancen gewartet haben, sich selbst aus der Armut herauszuarbeiten», sagt Claudio Capaul.» Angeleitet werden sie von den einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Projekten: In den Dörfern leben Entwicklungsberater unter den Bauern. In den städtischen Slums ziehen Sozialarbeiterinnen täglich von Haus zu Haus. «Diese Nähe der lokalen Fachleute zu den armen Familien ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor», beobachtet Michael Kesselring.
Die beiden Co-Geschäftsführer informieren über Ihre Reise im Detail bei einem Zoom-Event am 5. Dezember. Gerne nehmen sie auch Anregungen, Kritik und Fragen im persönlichen Gespräch entgegen. Rufen Sie an (Tel. 043 499 10 60) oder schreiben Sie uns: info@mfm.ch!