Quell der Erleichterung
Eine Quellfassung bringt nicht nur sauberes Trinkwasser. Für die 15 Jahre alte Tigist bedeutet die neue Infrastruktur auch das Ende einer täglichen Tortur. «Endlich bekomme ich keine Schläge mehr», berichtet sie.
Wenn die Nacht der Dämmerung weicht, weckt die Mutter ihre Tochter. Tigist Nuguse wäscht ihr schlaftrunkenes Gesicht mit einer Handvoll Wasser. Dann schlüpft sie in ihre Plastik-Sandalen und rennt los.
Es ist sechs Uhr morgens. Genau zwei Stunden hat sie Zeit. Um acht beginnt die Schule. Eine Stunde lang dauert der Weg zum Brunnen bei normalem Gehtempo. Wenn Tigist schnell läuft, kann sie es rechtzeitig zum Unterricht schaffen.
Doch am Brunnen gibt es eine Schlange. Tigist wartet ungeduldig, bis sie dran ist. Dann, endlich, kann sie ihren Kanister füllen. Mit verzerrtem Gesicht hebt sie ihn auf den Rücken, bindet ihn fest, mit Streifen aus auseinandergeschnittenen Kunstdünger-Säcken. Zwanzig Kilogramm wiegt die Last. Die Plastikstreifen schneiden in Tigists Schultern. Sie eilt zurück zum Elternhaus, Schweissperlen auf ihrer Stirn.
Schafft sie es rechtzeitig? Wenn sie zu spät zur Schule kommt, befiehlt der Lehrer ihr, die rechte Hand auszustrecken, die Handfläche nach oben. Dann saust der Zeigestock aus Bambus nieder. Der Schmerz brennt, aber noch mehr brennt die Demütigung.
Oh, diese Wut! Nicht auf den Lehrer, sondern auf die Mutter, die sie zum Wasser holen zwingt. Der bittere Zorn kocht in Tigist, bis sie nachmittags aus der Schule nach Hause kommt. Manchmal sagt die Mutter dann: «Morgen gehe ich Wasser holen!» Tigist fühlt die Reue und den Gram der Mutter. Nach der fünften Klasse brach die Mutter die Schule ab, weil sie mit 15 heiratete, wie es üblich war zu ihrer Zeit. Aber spätestens am übernächsten Tag ist Tigist wieder unterwegs zur Wasserstelle. Zwei Kanister, 40 Liter, das ist die Menge, die die Familie zum Waschen, Kochen, Trinken braucht. «Ich kann unmöglich zwei Mal an einem Tag zum Wasserholen gehen», erklärt die Mutter: «Ich habe so viel andere Arbeit!» Also läuft Tigist wieder und hofft, dass sie es rechtzeitig zur Schule schafft ….
Diese Schilderung ihrer früheren Situation stammt von Tigist selbst. Sie sitzt am Rand der neuen Quellfassung in ihrem Heimatdorf Bangusa im Distrikt Abaya im südlichen Äthiopien und erzählt ihre Geschichte. «Ich bin so froh, dass diese Tortur vorbei ist!», sagt der Teenager. «Heute ist das Wasserholen viel leichter und zur Schule komme ich nun immer rechtzeitig.»
Dies liegt an Menschen für Menschen. Wo bislang das Wasser einer Quelle in vielen Rinnsalen den Hang hinablief, hat Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe eine Infrastruktur errichtet, die genug und sauberes Trinkwasser bereitstellt: Eine Quellfassung sammelt jetzt das Wasser der Quelle, es wird durch Kies gefiltert und fliesst in ein Reservoir. An einem Auslass versorgen sich nunmehr 47 Familien.
Als die Quellfassung noch nicht errichtet war, schöpften viele Familien das Wasser aus den Rinnsalen, um sich den Weg zu dem weit entfernten Brunnen zu ersparen. Immer wieder bekamen sie Giardiose, eine Durchfallerkrankung, besonders die Kinder. Das ist jetzt vorbei. Und Tigists Leben hat sich entscheidend verbessert: Die Zwei-Stunden-Touren zum Brunnen fallen weg. Die neue Quellfassung liegt nahe an ihrem Elternhaus, das tägliche Wasserholen dauert für sie noch eine halbe Stunde. «Ich habe auch genug Zeit für die Hausaufgaben», freut sich Tigist. Am liebsten mag sie die Sprachfächer, Englisch und Amharisch. Sehr gerne würde sie Lehrerin werden – eine, die ihre Schülerinnen und Schüler gut behandelt und fördert: «Ich möchte mich für die Entwicklung Äthiopiens einsetzen.»