Viel Glück, liebe Fikre!
Das Schicksal hatte Fikre Demeke keine guten Karten auf die Hand gegeben. Sie war in einer Schuldenfalle gefangen, die Sorgen drückten sie. Unerwartet wendete sich das Blatt – durch die Hilfe von Menschen für Menschen. Fikre war glücklich – um wieder von einem Schicksalsschlag getroffen zu werden: Ihr Haus brannte nieder. Fällt sie zurück in Hoffnungslosigkeit, war alle Hilfe umsonst?
In der Schuldenfalle
Vor neun Jahren, im Jahr 2016, kommen unsere einheimischen Agrar- und Entwicklungsexperten ins Dorf Odomike und lernen dort auch Fikre Demeke kennen. Die 30-Jährige blickt stumm auf den Boden, ist niedergedrückt.
Fikre war noch ein Kind, als ihre Eltern sie in eine Frühehe mit einem viel älteren Mann zwangen. Schon mit 16 bekam sie ihren ersten Sohn. Von Familienplanung wusste sie nichts. Fünf Kinder folgten und mit ihnen wurde der Mangel immer grösser. Ihr Mann, ein Tagelöhner und Kleinbauer, verdiente so gut wie nichts. Also nannte sie ihren jüngsten Sohn «Kaku». Das heisst übersetzt: «Es ist genug.»
Schon einige Monate vor Kakus Geburt stürzte der Ehemann beim Ernten von Avocado sechs Meter tief von einem Baum. «Seit dem Sturz hat er ein Rückenleiden und kann kaum noch arbeiten», erzählt Fikre Demeke. Geld für eine Behandlung hat die Familie nicht. «Jetzt liegt die Last ganz auf mir», sagt die Mutter. Ihr Tag mit Haushalt, Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung dauert 17 Stunden: «Manchmal würde ich mich am liebsten auf die Strasse stellen, in der Hoffnung, von einem Auto überfahren lassen, so verzweifelt bin ich manchmal», sagt Fikre Demek leise.
Sie röstet und verkauft Maiskolben an einer Strassenecke der staubigen Kleinststadt Gangua unweit ihres Dorfes. Dazu braucht sie Holzkohle, einen einfachen Grill, frischen Mais. Dafür hatte sie kein Geld. Also nahm sie bei einem Geldverleiher einen Kredit auf. Umgerechnet 17 Franken. Dieses Geld bedeutet für Fikre eine Schuldenfalle.
Pro Tag macht sie einen Profit von etwa 85 Rappen. Doch die Hälfte ihres täglichen Verdiensts fordert der Geldverleiher als Zins! Wer extrem arm ist in Odomike im Bezirk Abaya in Südäthiopien, hat keine andere Wahl, als sich auf derartigen Wucher einzulassen. «Ohne den Kredit würde ich gar nichts verdienen», sagt Fikre. «Die Sorgen drücken mich nieder, aber ich muss stark sein für meine Kinder.» Ihre Stimme ist tonlos, ihre Schultern eingesunken. Auf ihrem Schoss ist Kaku eingeschlafen, ihr Jüngster. Er schnarcht leise.
Das wenige Geld, das Fikre verdient, geht komplett in Grundnahrungsmittel. Sie kann nichts zurücklegen, um ihren Kredit abzulösen: Die Falle hat keinen Ausweg. Die extreme Armut von Fikre hat verschiedene Gründe. Da ist die schädliche Tradition der Frühehe. Dann die fehlende Bildung: Fikre war nie in einer Schule. Wer gebildet ist, kann sich gegen Unrecht wehren – und weiss, wie man Familienplanung betreibt. Hinzu kommt die Rechtlosigkeit als ungebildete Frau: Fikre kann keine Sicherheiten bieten, sie hat keine Chance auf einen Kredit bei einer Bank – deshalb sind es die Ärmsten, die auf den empörenden Wucher privater Kredithaie eingehen müssen.
Wie lange hält eine Familie aber Mangel und Hunger aus? Viele extrem arme Familien in Äthiopien brechen auseinander. Und oft sind es die Frauen, die alles zusammenhalten. So wie Wucheropfer Fikre Demeke. Sie sind in einem Dasein, das kein richtiges Leben ist – nur ein Überleben.
«Das Leben ist gut!»
Zweieinhalb Jahre später, Anfang 2020, ist Fikre Demeke kaum wiederzuerkennen. «Das Leben ist gut!», sagt sie und lacht. Von dem Bündel der Verzweiflung, das sie war, ist nichts mehr übrig. Jetzt strahlt sie vor positiver Energie und zählt ihre Erfolge auf. «Ich habe acht Ziegen. Ich konnte ein kleines Stück Land mit Kaffeesträuchern und Bananenstauden erwerben. Wir essen drei Mal am Tag – und jedes Mal etwas anderes. Und meine Kinder gehen zur Schule!» Unser Projekt brachte die Wende, erzählt die Mutter. Entscheidend seien diese Aktivitäten und Impulse gewesen:
- Die Selbsthilfegruppe: Wie Fikre Demeke sind die meisten Mütter Opfer von Tradition und Umständen. Ihr Potenzial muss geweckt werden. Deshalb bringt Menschen für Menschen die Frauen in Gruppen zusammen, in denen sie sich gegenseitig stützen. Die Entwicklungsexperten unterrichten sie – beispielsweise in den Grundlagen des Wirtschaftens, wie man spart und ein Kleinstgewerbe führt. Daneben lernen die Frauen ganz nebenbei die Eigenschaft, die vielleicht am allerwichtigsten ist: Selbstwertgefühl. Fikres Gruppe hat sich den Namen «Charagari» gegeben. Das heisst übersetzt: «Viel Glück».
- Mikrokredite: Wir versorgen die Frauengruppen mit Startkapital, um es an die Mitglieder zu verleihen. Fikre Demeke hat einen Kredit über umgerechnet 100 Franken aufgenommen. Sie löste damit den Wucherkredit ab. Sie kauft Kaffeekirschen bei den Bauern und verkauft sie weiter an Kaffeehändler. Auch mit Mango und Bananen handelt sie. Mit dem Bus fährt sie 100 Kilometer weit in die Stadt Hagere Mariam und kauft dort zwei Reisetaschen voller T-Shirts und Plastikschuhe, die sie im Dorf mit kleinem Aufpreis verkaufen kann.
- Familienplanung: Fikre hat in der Selbsthilfegruppe alles über Verhütung erfahren. Sie hat sich in der Gesundheitsstation ein Hormonstäbchen unter die Haut des Oberarms applizieren lassen. Es schützt jahrelang vor einer Schwangerschaft – und damit vor noch mehr Mangel, wenn die kleinen Ressourcen der Familie ein weiteres Kind versorgen sollen.
«Das Allerbeste an meinem neuen Leben ist: Ich bin frei», betont Fikre. Denn jetzt brauche sie keine Wucherkredite mehr. «Im Gegenteil: Jetzt verleihe ich sogar Geld.» An Nachbarn, die in Not geraten, etwa durch eine Krankheit beispielsweise. «Aber ich nehme keine Zinsen», sagt Fikre. «Ich weiss, wie es sich anfühlt, wenn dir die Luft zum Atmen fehlt.»
Fikre trotzt einem Schicksalsschlag
Es vergehen vier Jahre bis zur nächsten Begegnung, es ist jetzt Mitte 2024. Fikre Demekes Gesichtsausdruck beim Wiedersehen ist ernst. Zwar liegt in ihrer Körpersprache keine Verzweiflung, wie zum Beginn unseres Projekts. Aber das Lachen fehlt. Was ist geschehen?
«Wir hatten eine gute Zeit», erzählt Fikre. Sie verdiente als Kleinhändlerin genug, um ihren invaliden Mann zu versorgen und die Kinder auf die Schule zu schicken. Aber dann brach ein Schicksalsschlag über die Familie herein: «Ich war unterwegs, und die Kinder hüteten das Kochfeuer nicht so, wie sie es hätten tun sollen.» Niemand weiss genau, wie es kam. Ob Funken das Grasdach ansteckten? Jedenfalls brannte das Haus mit seinen Wänden aus Holzstangen völlig nieder – mit aller Kleidung und allem Küchengerät und den im Haus versteckten Bargeld über rund 100 Franken, was hier für manche Tagelöhner ein Halbjahresverdienst ist.
Früher wäre der Brand eine vernichtende Katastrophe gewesen. «Natürlich war ich zunächst völlig fertig und frustriert», berichtet Fikre Demeke. «Und ich sah keinen anderen Weg, als die Kinder bis auf einen der Söhne aus der Schule zu nehmen.» Zwar gibt es keine Schulgebühren, aber die staatlichen Schulen verlangen von den Eltern, einfache Schuluniformen zu kaufen. Auch die Hefte, Bücher und Stifte gehen bei sechs Kindern ins Geld. Auch die Schulsachen war verbrannt.
«Immerhin hatte ich dank der Spar- und Selbsthilfegruppe nicht alles verloren», erklärt Fikre Demeke. Sie konnte auf Erspartes und einen neuen Mikrokredit zurückgreifen. An der Universität in der nahen Stadt Dilla verkauft sie Obst und Gemüse an Lehrer und Studenten: «Ich verdiene stabil und jeden Tag.» Auch konnte sie ein neues, einfaches Haus bauen. Noch sind die Wände aus Holzstämmchen nicht mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh verputzt, aber die Familie hat wieder eine Bleibe. «Und im September, zum neuen Schuljahr, werden alle meine Kinder den Unterricht wieder besuchen.»
Wenn man sie um ein Foto bittet, schaut Fikre Demeke direkt in die Kamera, sie schlägt nicht mehr den Blick nieder wie beim ersten Besuch zum Beginn unseres Projekts. «Es ging aufwärts von Jahr zu Jahr», sagt sie. «Von einem Rückschlag lasse ich mich nicht unterkriegen.»