Auf den Leib geschneiderte Entwicklung
An einer Schottertrasse in der Kleinstadt Gangua sitzt Martha Wako an ihrer alten Nähmaschine. Früher war die junge Frau Tagelöhnerin – heute ist sie selbstständig. Und sie hat noch grosse Pläne.
Wenn der Strom funktioniert, sitzen die Menschen in der Kleinstadt Gangua nach Sonnenuntergang um die wenigen Fernseher herum. Manchmal flimmern dann auch Bilder von Models im fernen Europa über den Schirm. Sie tragen teils Jeans mit Rissen und Löchern an Oberschenkeln und Knien. Das finden sie sie schön in Europa? Wie seltsam!
Niemals würde in Gangua ein Mensch mit Selbstachtung freiwillig mit Rissen in Jacke oder Hose auf die Strasse treten. In Europa mag zerrissene Kleidung für Individualität und Mode stehen. Im ländlichen Äthiopien hingegen hat intakte Kleidung eine existenzielle Bedeutung: Für Menschen, die nur wenig oder gar nichts besitzen, wird das äussere Erscheinungsbild zu einem Ausdruck von Würde.
Schon die Kinder wissen das. Eine Schülerin oder ein Schüler in einer sauberen, ordentlichen Uniform fühlt sich selbstbewusst. Wenn die Schulkleidung zerrissen oder schmutzig ist, spiegelt das oft nicht nur Armut wider, sondern kann auch Ausgrenzung in der Klasse nach sich ziehen. Auch das ist ein Grund, warum an der geschotterten Einfallstrasse nach Gangua die Nähmaschine von Martha Wako jeden Tag leise rattert. Es ist ein leises, bedächtiges Rattern, denn die Maschine hat keinen Elektromotor, sie wird mit Muskelkraft betrieben. Mit Hilfe eines Tretpedals setzt Martha Wako die Nadel in Bewegung. So kann sie draussen und den ganzen Tag arbeiten. Eine elektrische Maschine wäre keine Option. Zwar hat Martha in ihrem gemieteten Zimmer in einem Haus an der Einfallstrasse einen Stromanschluss. Aber die Elektrizität fällt oft aus, stunden- und tagelang.
Gerade bringt eine Frau eine Schuluniform. Die Kunstfaser des Oberteils ist ausgebleicht von der Sonne und vom vielen Waschen, mit einem Riss an der linken Achsel. In Europa würde man die Jacke in den Altkleidersack stecken oder gleich in den Abfall. Martha Wako schaut prüfend auf den Riss. «Das geht schnell», sagt sie, und nennt den Preis für die Reparatur: umgerechnet 30 Rappen.
Die junge Frau, 23 Jahre alt, arbeitete bis vor zwei Jahren als Tagelöhnerin, vor allem in der Bearbeitung und Vorbereitung von Kaffeekirschen fürs Rösten, eine anstrengende Arbeit. Ihr Lohn betrug einen Franken am Tag. «Das war nicht einmal genug, um Essen zu kaufen», erinnert sie sich. «Ich hatte zwölf Schuljahre hinter mir, aber konnte aufgrund Geldmangels nicht weitermachen mit einer Berufsausbildung. Ich war frustriert und niedergeschlagen, dass mir nur das Tagelöhnen blieb.»
Wie so viele ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen hätte sie mangels anderer Perspektiven wohl bald geheiratet und als Kleinbäuerin ein Leben in Mangel geführt. Aber vor zwei Jahren bot ihr Menschen für Menschen eine andere Möglichkeit. In unserem Jugendförderprogramm erhielt sie ein kleines Startkapital: Wir bieten jungen Leuten mit Geschäftsideen an, beim Aufbau einer Existenz zu helfen. Martha kaufte Jungschafe und mästete sie. Aus den Verkaufserlösen finanzierte sie ihre Ausbildung als Reparaturschneiderin und erwarb eine gebrauchte Nähmaschine. Seither arbeitet sie sechs Tage die Woche. Wenn sie tagsüber nicht fertig wird, näht sie abends in ihrem kleinen Zimmer weiter. Sogar am Sonntagnachmittag, nach dem Kirchgang, setzt sie sich manchmal an die Maschine, um an ihre Kunden zum verabredeten Zeitpunkt zu liefern.
Das Projekt von Menschen für Menschen in Abaya und Gelana konzentrierte sich bis Ende 2024 auf zwei zentrale Bereiche: Ernährungssicherheit und wirtschaftliche Stärkung der Bevölkerung – besonders für Frauen und junge Menschen. Über das Projekt wurden Mikrokredite und Schulungen vergeben, um die Menschen dabei zu unterstützen, sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Ziel war es nicht nur, kurzfristige Hilfe zu leisten, sondern nachhaltige Strukturen zu schaffen. Neben landwirtschaftlichen Massnahmen – wie der Einführung von verbessertem Saatgut – wurden gezielt junge Kleinunternehmerinnen und -unternehmer wie Martha gefördert. Ende 2024 zogen sich unsere Fachleute aus dem Bezirk zurück, um im benachbarten Distrikt Raphe zu helfen.
Martha schafft es jetzt allein. Pro Tag verdient sie das Drei- bis Vierfache einer Taglöhnerin. «Ich werde meine Ziele erreichen», sagt Martha: «Ich will eine bessere Maschine, ich will ein Ladengeschäft in der Stadt, ich will eigene Sachen schneidern. Und ich will andere junge Frauen beschäftigen.» Was ist mit einer Familie? «Heiraten kann ich immer noch.»
Plötzlich schlagen schwere Regentropfen auf die als Sonnenschutz aufgespannte Plastikplane über ihrem Arbeitsplatz. Vereinzelt noch, als Vorboten eines nahen Wolkenbruchs. Eilig baut Martha die Maschine ab, schleppt sie und die Kleidung der Kunden ins Haus. Dort knipst sie die Glühbirne an und setzt sich wieder an die Maschine. Das leise Rattern geht bald unter im ohrenbetäubenden Krach der Tropfen, die auf das Blechdach trommeln.
Neues Projekt in Raphe
Die Arbeiten im neuen Projektgebiet Raphe haben mit einem Eröffnungsworkshop Anfang März 2025 offiziell begonnen. In den Dörfern läuft die «Hilfe zur Selbstentwicklung» an. Derzeit identifizieren unsere Fachleute die bedürftigsten Familien und ihre Potenziale in dem Landbezirk im Süden Äthiopiens und beginnen ihre Schulungen.