78 Rappen Lohn für einen Tag Arbeit – und nie wissen, wie es morgen weitergeht: In Hambela Wamena in Südäthiopien sind junge Familien in einem Teufelskreis der Armut und Ohnmacht gefangen. Dank der Spenderinnen und Spender von Menschen für Menschen bekommen sie jetzt Starthilfen für ein menschenwürdiges Leben.
SO IST ES SITTE IN HAMBELA WAMENA in Südäthiopien: In den ersten sechs Monaten nach der Geburt eines Kindes schlafen Eheleute getrennt. Also legt sich Tariku abends auf den Lehmboden im Küchenraum. Seine Frau Shibere schläft mit der vor vier Monaten geborenen Yenu und der sechsjährigen Demitu hinter einem Vorhang auf einer Pritsche mit einer Unterlage aus getrockneten Blättern.
Shibere Senebe, 22, und Tariku Beriso, 28, sind extrem arm. Man sieht es nicht nur daran, dass sie das Mittagessen ausfallen lassen. So machen es die allermeisten Familien aufgrund ihres Mangels an Vorräten und Geld. Die besondere Armut des Paares erkennt man daran, in welchen Zwängen sie gefangen sind.
Gerade war Shibere im staatlichen Gesundheitsposten, denn die Eheleute haben sich für Familienplanung entschieden. Die Krankenschwester schickte sie weg: Zurzeit seien keine Gratis-Verhütungsmittel vorrätig. Es gibt die Präparate nur in der Apotheke in der nächsten Kleinstadt. Eine Injektion, die drei Monate vor Schwangerschaft schützt, kostet 200 Birr. Das sind umgerechnet drei Franken. «Das können wir uns nicht leisten», sagt Shibere.
Tariku arbeitet als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Für das Jäten auf Kartoffelfeldern bekommt er 30 Birr am Tag, das sind umgerechnet 47 Rappen, für das Pflücken von Kaffeekirschen 50 Birr (78 Rappen). Nach der Arbeit geht er zum Markt und kauft Kotcho, das Grundnahrungsmittel in Hambela Wamena, hergestellt aus dem fermentierten Mark der Ensete, einer sieben Meter hohen Staude, die aussieht wie eine Bananenpflanze. Mit der kohlenhydratreichen Masse können Pfannkuchen und Brötchen gebacken werden. Dafür geht die Hälfte des Tagelohns drauf. «Ich spare den Rest, falls ich am nächsten Tag keinen Job bekomme», erklärt Tariku. Mehr Rücklagen als für einen Tag kann er für seine Familie sehr selten bilden.
Einmal hatte Tariku etwas Geld übrig. Shibere kaufte damit ein Huhn. «Ich wollte die Eier verkaufen», sagt Shibere: Eier kosten 16 Rappen das Stück. «Wir hätten mit dem Verdienst Kotcho-Teig kaufen können.» Doch nach einigen Tagen war das Huhn verschwunden. «Wahrscheinlich hat eine Wildkatze es geholt», sagt Tariku.
Der Familienvater hat noch eine weitere Einnahmequelle. Er mästet Ochsen für andere Leute: Der Besitzer überlässt Tariku das Tier. Tariku sorgt dafür, dass der Ochse mit Ensete-Blättern und mit Kräutern und Gras, gesammelt auf Brachflächen, möglichst viel an Gewicht zulegt. Nach drei Monaten wird der Ochse verkauft. Besitzer und Tariku teilen sich den Gewinn hälftig.
Diese Abmachung ist nur für den Eigentümer ein gutes Geschäft: Dieser rührt keinen Finger. Ausserdem komme es regelmässig vor, dass er betrogen werde, sagt Tariku. «Der Besitzer sagt mir, er habe den Ochsen für 15'000 Birr gekauft. Dabei weiss ich, dass der Marktwert des Tiers nur 10'000 Birr beträgt», erklärt er. «Wenn ich den Ochsen gemästet habe und der Besitzer ihn für 18'000 Birr verkauft, bleibt mir nur die Hälfte des angeblichen Gewinns von 3000 Birr als Entlohnung statt der Hälfte des tatsächlichen Gewinns von 8000 Birr.» Nach drei Monaten Arbeit zahlt ihm der Eigentümer ein paar abgegriffene Scheine in die Hand: 1500 Birr, das sind 25 Franken. Wissend geht Tariku auf den Betrug ein: «Ich habe keine andere Wahl.»
«Ohne Hilfe wird sich die Familie nie aus diesen empörenden Zwängen befreien können. Ihre Armut wird auf ihre Kinder übertragen», erklärt Dr. Martin Grunder, Projektkoordinator von Menschen für Menschen. «Dabei ist ihr Fall typisch: Wie tausende andere Familien in Hambela Wamena hat sie das Potenzial, die Not hinter sich zu lassen – wenn sie nur einen kleinen Anschub von aussen bekommt.»
Wie könnte diese Starthilfe aussehen? «Wenn ich ganz auf eigene Rechnung Ochsen mästen könnte: Das wäre wunderbar!», sagt Tariku. Genau das planen jetzt die Mitarbeiter im Menschen für Menschen-Projekt: Als eine von 340 Familien sollen Tariku und Shibere einen Ochsen auf Basis eines fairen Mikrokredits über 240 Franken erhalten. Mit dem Gewinn aus dem Verkauf des gemästeten Ochsen können sie ein neues Tier kaufen und anfangen, den Kredit zu tilgen. «Der Clou: Die Rückzahlung geht nicht an Menschen für Menschen, sondern an eine bäuerliche Kooperative, die mit dem Geld weitere Kredite an Kleinbauern und Tagelöhner vergibt», sagt Martin Grunder. «So wirkt unser Investment in eine Familie als Initialzündung langfristig und nachhaltig in die Region hinein.»
Shibere soll sich einer neuen Frauen-Spargruppe anschliessen. Dort erhalten die Frauen Schulungen, wie man erfolgreich Kleinhandel betreibt, aber auch zu Familienplanung, Kindererziehung und Gleichberechtigung. «So wird das bislang vernachlässigte Potenzial der Frauen für die Entwicklung geweckt », erklärt Grunder.
Das Konzept hat seine Wirksamkeit bewiesen, etwa in Abaya, dem Nachbarbezirk von Hambela Wamena. Dort war die Familie von Birke Eshetu und ihrem Ehemann Tadesse vor acht Jahren in einer ganz ähnlichen aussichtslosen Lage wie Tariku und Shebene. «Manchmal flüchte ich aus dem Haus und versteckt mich im Feld, weil ich das Bitten der Kinder um Essen nicht mehr ertrage», sagte sie den Mitarbeitern von Menschen für Menschen zum Start des Hilfsprojekts. Ein Besuch im Sommer 2024 zeigt ihren nachhaltigen Fortschritt. Die Familie ist mit der Ochsenmast erfolgreich. Mit dem Gewinn konnten sie ein Feld erwerben, auf dem sie Kaffee und Ensete anbauen. «Die Kinder tragen jetzt ordentliche Kleider und sie gehen in die Schule», berichtet Birke. «Wir nehmen drei Mahlzeiten ein und nicht wie früher nur eine am Tag.»
Manchmal vermieten sie ihre beiden Ochsen zum Pflügen, sie verdienen damit in zwei Stunden so viel wie Tagelöhner Tariku in Hambela Wamena in drei Tagen. Der grösste Unterschied zu früher ist das Auftreten der Bauersfrau. In der Zeit der Not schien Birkes Gesicht leblos, die Augen stumpf vor Verzweiflung. Jetzt blitzen ihre Zähne, die Augen leuchten, sie ist eine selbstbewusste Frau geworden. Ist sie zufrieden? «Ja», sagt Birke Eshetu. «Wir sind jetzt eine glückliche Familie.»
Drüben in Hambela Wamena gibt es auf die gleiche Frage andere Antworten. «Wenn du so viel Mangel leidest wie wir, ist es schwierig zu sagen, dass du mit deinem Leben zufrieden bist», sagt Tariku. «Ich möchte in der Zukunft glücklich sein», sagt seine Frau Shibere. Ihre einzige Chance, dass sich dieser Wunsch erfüllt, sind Menschen für Menschen und die Spenderinnen und Spender der Stiftung.
Wie wir unser Ziel erreichen
- Bessere Ernten: Unsere Fachleute zeigen den Kleinbauern moderne und angepasste Bewirtschaftungsmethoden und wie sie ihre Ernten trotz kleiner Felder vergrössern und diversifizieren können, etwa mit proteinreichen Hülsenfrüchten.
- Mehr Vieh: Über Mikrodarlehen erhalten arme Familien Schafe, Ziegen und Ochsen. Nach der Mast können sie die Tiere verkaufen. Die Familien können investieren, etwa in Dünger und verbessertes Saatgut und in die Schulbildung ihrer Kinder.
- Dem Klimawandel trotzen: Die Menschen erleben immer mehr unregelmässige Regenfälle. Wir zeigen ihnen angepasste Methoden, etwa Agroforstwirtschaft, wo unter Schattenbäumen Kaffeesträucher und Gemüse gedeihen.
- Gemeinsam ist stärker: Wenn sich Bauern zusammentun, kommen sie leichter an landwirtschaftliche Inputs und Mikrokredite. Deshalb unterstützen wir sie dabei, sich in Spargruppen und Kooperativen zusammenzuschliessen.
- Sicheres Wasser: Wir sorgen für 16 neue Wasserstellen und reparieren zehn Brunnen. Davon profitieren rund 18´000 Menschen.
- Familien planen: Begleitend zu unseren landwirtschaftlichen Schulungen klären wir über Familienplanung auf. Damit die Familien nur die Zahl der Kinder bekommen, die sie tatsächlich wollen.
Warum wir helfen
In Hambela Wamena, einem Bezirk im Süden von Äthiopien, gibt es kaum Infrastruktur. Nur elf Prozent der Familien haben sicheres Trinkwasser; die Bevölkerung aus Kleinbauern und Tagelöhnern leidet unter ineffizienter Landwirtschaft. 96 Prozent der Einwohner haben nicht das ganze Jahr über genug zu essen.
Was wir wollen
3600 Familien mit insgesamt 25'000 Mitglieder sollen bessere Ernten und Einkommen erzielen, um in ihren Heimatdörfern ein stabiles und menschenwürdiges Leben führen zu können.