Vom Glück geküsst
Eine Familie war ganz unten. Mit Fleiss und der Hilfe von Menschen für Menschen ging es aufwärts. Dann kam die Corona-Krise – und die bittere Not zurück. Eine Geschichte voller Hoffen und mit erneuten Tiefschlägen – bis zum Happy End.
«Wir sind eine frohe Familie»
«Es gibt viel Liebe bei uns. Ohne Armut wären wir glücklich»
Welche Last ist diesen Geschwistern von den Schultern genommen! «Jetzt sind wir froh», sagt Abiy, 14, der Älteste. «Wir haben genug Essen. Wir können die Schule besuchen. Wir haben ein sicheres Haus.»
Vor drei Jahren war alles ganz anders: «Ich lag nachts wach, weil meine Eltern die Miete nicht zahlen konnten. Ich hatte solche Angst, dass der Besitzer uns auf die Strasse wirft», erinnert sich der Bub.
Abiy lebt mit seinen Eltern, den Brüdern Beshahe, 11, und Asefa, 9, und Nesthäkchen Hiwot, 6, in einem Lehmhaus in der Grossstadt Debre Berhan: Menschen für Menschen hat das Haus für besonders arme Familien errichtet. Die Familie baut sich hier ein kleines eigenes Glück auf.
Hinter sich hat sie einen Leidensweg, von dem es ohne die Spender von Menschen für Menschen keine Abzweigung gegeben hätte. Bereits im September 2020 haben wir über ihre Familie berichtet. Im folgenden Bericht zeichnet die Stiftung Menschen für Menschen das Schicksal der Familie in den vergangenen dreieinhalb Jahren nach.
Die Familie lebt in grosser Enge. Hier ein Foto im «Schlafzimmer»
«Werden wir obdachlos?»
ES IST EIN KÜHLER MORGEN IM MAI 2019. Abiy und seine Brüder spielen mit einem Ball aus Lumpen auf einer Brachfläche zwischen Abfall und Kot: Es gibt keine Toiletten und manche Anwohner benutzen den Platz auch für ihre Notdurft. Es ist Vormittag, die gleichaltrigen Kinder sind an diesem Tag im Mai 2019 in der Schule. Abiy sagt mit leiser Stimme: «Ich vermisse die Freunde und das Lernen.»
«Die Buben können nicht mehr zur Schule gehen», sagt Mimi Goshime, ihre Mutter. Sie wirkt scheu. «Wir haben kein Geld für die Schuluniformen.»
Vater Kefle Mamu, ein schmächtiger Mann, arbeitete als Tagelöhner auf dem Markt. Aber unter dem Gewicht der bis zu 100 Kilogramm schweren Getreidesäcke ist in seiner Wirbelsäule etwas kaputt gegangen. Er kann nicht mehr tragen. Er hat keine Schulbildung, eine andere Arbeit findet er nicht. Sein Tagelohn von umgerechnet 50 Rappen fehlt.
Nesthäkchen Hiwot sammelt Weizenkörner vom Boden auf
Meist isst die Familie die Reste, die ihnen einige Nachbarn bringen. «Ich schäme mich», sagt Mimi Goshime. «Andererseits danke ich Gott, dass uns die Leute mögen und uns helfen.»
Ein schiefer Anbau an einem Haus, etwa neun Quadratmeter klein, ist ihr Zuhause. Die drei Buben sind höflich und zurückhaltend. «Ich erziehe sie gut. Es gibt viel Liebe bei uns», sagt Mimi Goshime.
Vor einigen Wochen klopfte es. Angestellte der Stadtverwaltung standen vor der Tür. «Diese Unterkunft ist ohne Genehmigung errichtet», sagten sie. «Ihr müsst sie abreissen und verschwinden.» Aber wohin? In die Obdachlosigkeit? Die Angst drückt Eltern und Kinder nieder.
Nesthäkchen Hiwot hat eine Schale mit Weizen verschüttet. Geduldig sammelt die Dreijährige Korn für Korn vom Lehmboden auf. Das Mädchen weiss, wie wertvoll die Körner sind.
Während Gleichaltrige in der Schule sind, spielen die drei Brüder Fussball
«Jetzt schaffen wir es!»
EIN HALBES JAHR SPÄTER: Die Familie ist in ein neues Haus gezogen. Abiy reicht den Gästen selbst gemachtes Popcorn, nachdem er von der Schule zurückgekommen ist. Mutter Mimi röstet Kaffee über einem Stövchen mit Holzkohle.
Was ist geschehen? Mimi Goshime erzählt: Zwei junge Sozialarbeiterinnen von Menschen für Menschen besuchten die Familie in ihrer beengten Unterkunft, kurz bevor sie dort ausziehen mussten. «Wir wollen euch helfen», sagten sie.
Die Familie bekam zwei Zimmer in einem neuen, nach lokalen Standards errichteten Lehmhaus zugewiesen, das Menschen für Menschen gebaut hat. Die Buben bekamen Schulbedarf und Schuluniformen. Mimi Goshime wurde Mitglied einer Selbsthilfegruppe für arme Mütter. Die Frauen bekommen Schulungen, lernen, wie man spart und ein kleines Geschäft führt. Dann nahm Mimi Goshime ihren ersten Mikrokredit auf. Zunächst lediglich umgerechnet 30 Franken. Sie kaufte Weizen, röstete die Körner. Sie packte den beliebten Snack in kleinen Tüten ab und bot ihn auf der Strasse an. Es funktionierte. Die Passanten kauften ihr die Ware ab, schnell konnte sie ihren Kredit zurückzahlen. Selbstbewusst geworden, nahm sie in einer zweiten Kreditrunde 120 Franken auf.
Sie röstet und verkauft nun die vierfache Menge, findet ein Auskommen. «Früher fühlte ich mich minderwertig», sagt Mimi Goshime. «Jetzt bin ich zuversichtlich, dass wir es aus eigener Kraft schaffen.»
In der Corona-Krise: Der Familie ist nicht zum Lächeln zumute
«Corona bringt uns die Not zurück»
MITTE 2020 hat die Corona-Pandemie auch die Stadt Debre Berhan im Griff. Die Schulen sind geschlossen. Die Menschen haben Angst vor Ansteckung. Mimi Goshimes Snack-Geschäft ist zusammengebrochen. «Wir sind verzweifelt», sagt sie.
«Corona bringt die Not zurück.»
Die Lebensmittelpreise sind wegen Hamsterkäufen um mehr als ein Drittel gestiegen. Viele Wochen ernährt sie die Kinder lediglich mit gekochten Mais und Weizenkörnern, sagt Mimi Goshime. «Trotzdem mussten wir Mahlzeiten ausfallen lassen.»
Mit ihrer Familie ist sie auf die Schulwiese gekommen. Selbst die kleine Hiwot trägt eine selbst genähte Maske. Menschen für Menschen hat die bedürftigsten Familien identifiziert. Insgesamt 206 Kindern droht akut Unterernährung. Jedes Kind erhält ein Überlebenspaket mit Weizenmehl (15 kg), Teigwaren, Reis und Hülsenfrüchten (je 3 kg), ausserdem Speiseöl und Waschseifen.
«Wir begannen dank der Kleinkredite und meines Geschäftserfolgs bereits von einer besseren Zukunft zu träumen», sagt Mimi Goshime. «Aber wenn sich die Corona-Situation nicht bessert und jeder nur noch für sich selbst sorgt: Was soll dann aus uns werden?»
Hiwot mit Sozialarbeiterin von Menschen für Menschen
«Wir haben ein richtiges Leben!»
EIN ZEITSPRUNG VON FAST ZWEI JAHREN: Die Ängste und die Not in den langen Monaten von Corona sind Anfang 2022 nur noch eine düstere Erinnerung. Regelmässige Nothilfepakete von Menschen für Menschen haben die Familie über die Krise gebracht – und im Haus herrscht eine entspannte Stimmung.
Abiy hilft seiner Mutter. Die beiden verpacken je 125 Gramm geröstete Gerstenkörner in kleine Plastiktütchen und versiegeln sie über einer brennenden Kerze: Das Geschäft mit Getreide-Snacks läuft wieder. Es wurde die Grundlage zu einem eindrucksvollen Aufstieg. 90 Birr beträgt der Profit pro Tag, das sind rund eineinhalb Franken – drei Mal so viel, wie Ehemann Kifle früher als Träger verdiente. Kifle ist nicht im Haus, wie jeden Tag steht er jetzt in seiner kleinen gemieteten Werkstatt. Mit Teilen des Verdienstes von Mimi konnte er Bretter und Holzwerkzeug kaufen. Er ist selbständig, stellt einfach gezimmerte Schemel, Hocker und Tischchen her. Sein Profit pro Monat ist erstaunlich, beträgt rund 65 Franken.
Abiy hilt seiner Mutter beim Verpacken von geröstetem Korn
In einer Ecke des Hauses steht jetzt ein kleiner würfelförmiger Fernseher. Ein Monatseinkommen kostete das gebrauchte Gerät. «Als wir TV bekamen, war das so ein grosser Tag für mich!», erinnert sich Abiy. Endlich können die Geschwister zu Hause Zeichentrickfilme sehen. Aber der Fernseher ist viel mehr als ein Gerät zur Zerstreuung. Er ist ein Symbol dafür, gleichwertig zu sein. «Endlich müssen wir uns nicht mehr schämen», sagt Abiy. «Früher schlichen die Kinder in die Wohnungen von Nachbarn, um TV zu sehen, aber sie wurden häufig beschimpft und weggeschickt», erklärt Mimi.
In Äthiopien sind Besuche von Nachbarn sehr wichtig für das soziale Leben. Früher waren die Sozialarbeiterinnen von Menschen für Menschen die einzigen Besucherinnen im Haus der Familie. «Zu uns wollte niemand kommen. Wir waren arm und isoliert. Ich fühlte mich deshalb mehr als Tier denn als Mensch», erinnert sich Mimi. «Jetzt kommt es mir vor, als sei ich eine andere Person.»
Tatsächlich: Vor drei Jahren war sie schüchtern, leise, schlug die Augen nieder. Jetzt lächelt sie, schaut das Gegenüber mit offenem Blick an: «Ich habe Freundinnen, kann sie zum Kaffee einladen. Ich habe ein richtiges Leben!»
Nur Vater Kifle fehlt. Er arbeitet in seiner Werkstatt
«Wir sind stabil!»
KLIMAWANDEL UND UKRAINE-KRIEG: Die globalen Krisen des Jahres 2022 reichen bis in das Lehmhaus der Familie. In grossen Teilen Äthiopiens herrscht Dürre und das Korn aus Osteuropa fehlt am Weltmarkt: Ein Kilogramm Gerste kostet in Debre Berhan jetzt 90 Rappen – damit hat sich der Preis fast verdoppelt. «Doch die Menschen wollen keinen höheren Preis für meine Snacks zahlen», sagt Mimi. «Ich musste den Verkauf gerösteten Getreides aufgeben.»
Früher wäre der Verlust ihrer Einkommensquelle einer Katastrophe gleichgekommen. «Aber wir Frauen haben in unserer Selbsthilfegruppe gelernt, alternative Ideen zu entwickeln. Also backe ich jetzt Injerra und verkaufe es in der Nachbarschaft», berichtet Mimi. Auf Injerra, das säuerlich schmeckende Fladenbrot Äthiopiens aus Zwerghirse, wollen die Menschen trotz gestiegener Preise nicht verzichten. «Weil ich Geld gespart habe, konnte ich einfach Mehl kaufen und umsteigen.»
In Zeiten einer Inflation von rund 35 Prozent hilft auch der kleine Gemüsegarten am Haus zur Versorgung der Familien: In der Selbsthilfegruppe von Menschen für Menschen hat Mimi Saatgut bekommen und gelernt, wie man Mangold, Zwiebeln und Möhren anpflanzt. Inzwischen konnte sie dank ihres Mikrokredits auch vier Hennen kaufen, deren Eier in der Stadt teuer gehandelt werden. Drei Franken pro Woche verdient sie damit. Die Möbelschreinerei ihres Mannes läuft unverändert gut.
Damit zeigt sich die Familie erstaunlich widerstandsfähig in den aktuellen Krisen. Menschen für Menschen hat die Familie bereits Ende 2021 aus der Förderung entlassen – weil sie jetzt selbst klar kommt. «Wir sind stabil und voller Hoffnung», sagt Mimi. «Aber ich will noch mehr erreichen.»
Noch lebten sie in einer Sozialwohnung von Menschen für Menschen. «Wir wollen möglichst bald ein eigenes kleines Lehmhaus bauen und ausziehen. Den Platz frei machen für Leute, die es nötiger brauchen als wir. Denn wir gehören jetzt nicht mehr zu den ärmsten Familien.»
DRINGLICH!
Hilfe für neue Familien
In der Grossstadt Debre Berhan schafft Menschen für Menschen Lebensperspektiven für besonders arme Familien und fördert die Kinder und Eltern umfassend. Einige Aktivitäten:
- Wir erstellten bislang 117 einfache Sozialwohnungen. 244 Kinder haben dort ein menschenwürdiges Daheim gefunden.
- Armutskrankheiten wie Krätze machen das Leben von Kindern zur Hölle. Durch unser Projekt erhielten Kinder in 1125 Fällen medizinische Behandlungen.
- Wir ermöglichen den Kindern den Schulbesuch über das Bereitstellen von Schulmaterial und -uniformen.
- Wir initiierten 43 Selbsthilfegruppen (SHG). Die 775 Mitglieder wurden mit Startkapital versorgt: Mit Mikrokrediten begannen viele von ihnen erfolgreich Kleingeschäfte.
- In der Corona-Krise organisierten wir regelmässige Nothilfe-Verteilungen für rund 100 besonders betroffene Familien.
Zum Jahreswechsel 2021/2022 konnten wir drei Viertel der geförderten Familien in die Selbstständigkeit entlassen, darunter die Familie von Mimi Goshime.
Gleichzeitig identifizierten wir neue Familien, deren Lage ohne Hilfe von aussen aussichtslos ist: Bis 2024 werden wir 1200 Kinder und Jugendliche und ihre Eltern umfassend fördern.