Täglich ist Endashaw Alemu zu Fuss unterwegs, viele Kilometer weit. Er marschiert im äthiopischen Distrikt Fogera von Bauernhof zu Bauernhof. Überall hat der junge Landwirtschaftsberater die gleiche Aufgabe: Er macht den Menschen Mut für Veränderungen. Damit sie Armut und Hunger besiegen können.
ER EILT ÜBER LEHMIGE PFADE, dann hüpft Endashaw Alemu von Stein zu Stein über einen Bach, springt einen Ackerrain hinauf und sieht das nächste schiefe Haus mit Blechdach: eines der verstreuten Gehöfte in Fogera. Dort lebt Asenakew Mekonen, 55, mit Frau und Kindern. Der Bauer ist ein kleiner Mann mit grossen Händen. Er begrüsst den Gast mit herzlichem Blick und führt hinüber in das Wäldchen, das er mit Hilfe von Menschen für Menschen pflanzen konnte: Die Silbereichen, erst zwei Jahre alt, sind teilweise schon mehrere Meter hoch. Der junge Landwirtschaftsberater Endashaw interessiert sich für die Sträucher zwischen den Bäumen, die der Bauer ebenfalls von der Äthiopienhilfe erhalten hat. Gesho nennen die Äthiopier sie, eine Pflanze, die zum Bierbrauen gebraucht wird. «Die Sträucher sind gesund», sagt Endashaw zu dem Bauer. «Gut, dass Sie sie regelmässig wässern!» Schon nach einem Jahr können die ersten Blätter des Strauchs verkauft werden. «Gesho bringt gutes Geld auf dem lokalen Markt», erklärt Endashaw. «Damit kaufen die Bauern Dünger, Kleidung und auch Grundnahrungsmittel.»
Die ersten Silbereichen, die in diesem Klima schnell in die Höhe schiessen, können nach fünf Jahren eingeschlagen werden. Die schlanken Stämmchen sind wertvolles Bauholz: Die Wände der Häuser bestehen traditionell aus einem Gerippe aus Stangen, das mit Lehm verputzt wird. Noch wichtiger als die Bäumchen sei für ihn Teff, erklärt der Bauer: «Endashaw hat uns eine neue Anbaumethode gezeigt,“ berichtet der Kleinbauer. Bislang pflanzte Asenakew den Teff wie es seine Vorfahren seit Tausenden von Jahren taten: Seine mageren Ochsen kratzten mit einem einfachen Hakenpflug den Boden auf. Dann warf er das Getreide mit der Hand über das Feld aus. Grosse Teile der Saat vertrockneten oder wurden von Vögeln gefressen. Die Ernte blieb gering. «Aber jetzt ziehe ich Furchen im Boden, im Abstand von 20 Zentimetern», erklärt Asenakew. «Ich fülle eine kleine Plastikflasche mit den Teffsamen.» Teff heisst auch Zwerghirse: Die Samen sind winzig, sie messen kaum einen Millimeter. «Dann brenne ich mit einer heissen Nadel ein Loch in den Deckel», berichtet der Bauer weiter. Wenn man jetzt mit der Flasche entlang der Furche geht, den Deckel nach unten, rieselt der Samen heraus, wie Sand zwischen den Gläsern einer Sanduhr – nicht zu viel, nicht zu wenig.
Es hilft auch, dass Asenakew verbessertes Saatgut und Mineraldünger von Menschen für Menschen bekam. «Die Familien können so ihre Ernte verdoppeln», sagt Berater Endashaw. Es ist gar nicht leicht, die Bauern von Innovationen zu überzeugen. Etwas Neues auszuprobieren ist für sie ein Risiko. Das Ergebnis sieht man erst nach vielen Monaten, bei der Ernte. Veränderung braucht Mut – gerade auch, weil die Lebensverhältnisse immer prekärer werden in der wachsenden Bevölkerung. Wenn die Alten sterben, teilen die Jungen das Erbe auf. Mit jeder Generation wird das Land pro Familie noch kleiner. Inzwischen steht jeder Familie im Schnitt noch 0,3 bis 0,4 Hektar Land zur Verfügung. Das entspricht der Hälfte eines Fussballplatzes. Davon kann sich niemand ernähren – zumindest nicht bei der althergebrachten Wirtschaftsweise. So schleicht sich der Hunger über die Schwellen, macht sich in den Hütten breit, viele Monate im Jahr – bis endlich die neue Ernte Erleichterung bringt. Aber nur für einige Zeit, bevor die Vorräte wieder zur Neige gehen. Deshalb hilft Menschen für Menschen. Die Familien erhalten vielerlei Anstösse, wie sie ihre Ernten und damit ihr Einkommen trotz der kleinen Felder diversifizieren und vergrössern. Dazu gehören materielle Hilfen wie Baumsetzlinge oder leistungsfähiges Saatgut, das sie auf Basis von Mikrokrediten erhalten. Aber noch wichtiger ist das Verbreiten von neuem Wissen und neuen Methoden. Insgesamt arbeiten acht Landwirtschaftsberater an der Graswurzel: Sie leben im Projektgebiet unter den Bauernfamilien, oft allein. Endashaw hat Glück. Seine junge Frau, eine ausgebildete Betriebswirtin, ist in der Babypause und zu ihm gezogen, das junge Paar hat eine einjährige Tochter.
«Ich war zunächst skeptisch bei Endashaws Vorschlägen», sagt Bauer Asenakew. «Aber er kam jeden Tag und schliesslich fasste ich Vertrauen.» Er hat die neuen Ideen genau so wenig bereut wie Bauer Tegegne Kebede, 42. Dessen Haus ist für Endashaw heute die nächste Station. Der Bauer zeigt ihm seinen Kompost, den er vor drei Monaten angelegt hat, mit Baumblättern, Bohnenstroh und Rinderdung. Menschen für Menschen steuerte die fleissigen Helfer bei: Packungen mit feuchter Erde, darin Hunderte Regenwürmer. Mit vollen Händen fassen die beiden Männer in den Kompost. Er ist locker, dunkel, fast schwarz. Endashaw hält sich eine Handvoll vor das Gesicht: «Riecht angenehm! Ein wichtiges Kriterium für die Güte.» Tegegne kann den Kompost gut gebrauchen: Vor allem nutzt er ihn in den Pflanzlöchern für die Mango-Setzlinge, die er von Menschen für Menschen erhält.
«Am allerwichtigsten aber war für mich, dass ich Mais-Saatgut bekommen habe, auf Basis eines Kredits», erklärt Tegegne. Diese Mikrokredite für Saaten zahlen die Bauern an eine Genossenschaft zurück, die mit den Rückzahlungen neue Kredite ausgibt. «Ohne diese Chance hätte ich privat Geld aufnehmen müssen.» Die Zinsen sind bei den lokalen Verleihern horrend und ein wesentlicher Grund, warum die Familien in der Armutsfalle stecken: «Nach der Ernte hätte ich die doppelte Summe zurückzahlen müssen!»
Vom Verkauf der Jungschafe könnten sie nicht nur Lebensmittel und Mineraldünger kaufen, sagt der Bauer, sondern auch Schulsachen für die beiden Töchter, 18 und 15 Jahre alt, und den zwölfjährigen Sohn. Für seine Frau sei eine andere Neuerung sehr wichtig: «Früher kochte ich auf offenem Feuer», erzählt Wolela Agmas. «Stundenlang tränten meine Augen, so mörderisch war der Rauch. Und die Flammen verbrannten meine Beine.» Endashaw überzeugte sie von den Vorteilen eines einfachen Herdes, der aus einer Handvoll Beton-Elementen zusammengesetzt wird: «Wir brauchen jetzt viel weniger Kuhdung und Holz als Brennmaterial.» Der Dung kann jetzt auch für den Kompost verwendet werden. Es muss weniger Holz geschlagen und gesammelt werden, was traditionell die Arbeit der Mädchen ist: Jetzt haben sie mehr Zeit für ihre Schule.
Dass Bildung der Weg für Entwicklung ist, hat Endashaw selbst erfahren: «Ich weiss, wie sich Armut anfühlt.» Auch er stammt aus einer Kleinbauernfamilie. Seine älteren Brüder mussten früh in der Landwirtschaft helfen und die Schule aufgeben. Aber er durfte eine Ausbildung machen. Vielleicht erkennt er sein jüngeres Ich in Hailemikael wieder, der Sohn von Bauer Asenakew Mekonen (auf unserer Startseite zu sehen). Der Elfjährige ist der beste Schüler in seiner Klasse mit 54 Schülerinnen und Schülern. Der Unterricht könnte besser sein, denn in der abgelegenen Schule sind keine neuen Schulbücher angekommen, weshalb die Kinder viel von der Tafel abschreiben müssen. Aber nichtsdestotrotz hat der Bub grosse Träume. «Ich möchte einmal Premierminister von Äthiopien werden», sagt Hailemikael und lächelt. «Dann entwickle ich das Land – und alle haben genug zum Leben.»