In einer Familie herrscht schiere Verzweiflung: Was ist geschehen? Wie können wir helfen? Das sind unsere Fragen im Frühjahr 2022, als Menschen für Menschen auf das Mädchen Hirut und seine Geschwister aufmerksam wird. Heute, eineinhalb Jahre später, ist die Familie glücklich: So bringen wir «Hilfe zur Selbstentwicklung».
Unerwünscht im eigenen Land
Die Familie floh vor drohender Gewalt. In der Stadt Debre Berhan fand sie zwar Sicherheit, aber auch bitterste Armut, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Der Bub Biruk und das Mädchen Selam sind drei Jahre alt. Die Zwillinge sind zu klein für ihr Alter: eine Folge von Nahrungsmangel. Biruk schläft auf dem Schoss von Mutter Sosina. Ihr Blick ist leer. Selam kommt herbei und und streichelt dem Brüderchen über den Kopf. Dann trippelt das Mädchen zurück zu seiner grossen Schwester Hirut und kuschelt sich an sie. Hirut ist 13. Auch sie wirkt zu zierlich für ihr Alter.
Die Wohnung von Eltern und vier Kindern besteht aus einem einzigen kleinen Zimmer. Tagsüber lehnt eine Matratze an der Wand. Darauf schlafen Hirut und ihre siebenjährige Schwester Haymanot. Die Eltern nächtigen mit den Zwillingen hinter einem Vorhang.
Seit drei Jahren lebt die Familie in der Stadt Debre Berhan als Geflüchtete im eigenen Land. Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat. Lange haben Politiker die Volksgruppen gespalten, Misstrauen und Neid gesät. Die Armut ist ein fruchtbarer Boden, auf dem die böse Saat aufgeht. Sosina Sisay und ihr Mann Abush Tesfaye gehören zur Volksgruppe der Amhara, lange lebten sie im Landesteil Oromia. Abush ist ein tüchtiger Bauhelfer, er verdiente sein Geld mit dem Verputzen von Lehmhäusern. Eines Tages sagten die einheimischen Kollegen: «Du nimmst uns die Arbeit weg. Verschwinde!» Der Chef raunte: «Die Leute wollen dich töten.» Also floh die Familie mit den zwei grossen Kindern und den neugeborenen Zwillingen nach Debre Berhan im Landesteil Amhara.
Verputzer gibt es viele in der Stadt. Wenn Abush morgens keinen Job auf dem Bau findet, geht er auf den Markt, dort bietet er sich als Träger beim Entladen von Lastwagen an. Oft vergeblich. «Wenn er nach Sonnenuntergang nach Haus kommt, schaue ich auf seine Hände», erzählt Sosina. «Hat er Geld, hat er Essen dabei?»
In Oromia besassen sie ein kleines Lehmhaus. Jetzt müssen sie für ihre Unterkunft Miete zahlen, umgerechnet 18 Franken im Monat. Das ist viel Geld, an einem sehr guten Tag verdient Abush zwei Franken. Aber mindestens zwei Mal in der Woche kommt er mit leeren Händen nach Hause. «Dann verzichten mein Mann und ich auf Essen. Die Kinder bekommen, was wir haben. Wir lassen das Mittag- und das Abendessen ausfallen.» Die Kinder haben Hunger und fragen oft nach Essen. «Ich versuche, sie abzulenken, sage, dass ich gleich koche und hoffe, dass sie ihren Hunger vergessen», sagt die Mutter. «Aber natürlich vergessen sie ihn nicht. Ich gehe raus ins Freie und weine dort, damit sie meinen Schmerz nicht sehen.»
Sie gehe zu den Läden in der Nachbarschaft und bettele um Lebensmittel: «Ich bezahle euch morgen, ganz bestimmt.» Manchmal kann sie anschreiben lassen, manchmal aber nicht. «Wir sind Zugezogene», sagt Sosina. «Wir haben keine Freunde und keine Familie hier.»
Hirut hört ihrer Mutter zu. Ihr erwachsener Blick scheint nicht zu ihrer kindlichen Gestalt zu passen. Sie sei eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse, das Lernen falle ihr leicht. Ihr Lieblingsfach sei Mathematik: «Ich liebe es zu rechnen und die Lösungen herauszufinden.» Ja, sie habe oft Hunger, aber sie sage es nicht. «Ich möchte meiner Mutter keinen Schmerz bereiten. Ich möchte, dass meine jüngeren Geschwister das Essen bekommen.»
In einer Ecke sitzt Lemlem Tadesse, Sozialarbeiterin von Menschen für Menschen, in ihren Augen schimmert es feucht. «Natürlich sind wir Helfer berührt von diesem unverschuldeten Leid», sagt sie. Eine Nachbarin hatte ihr vom Elend der Familie berichtet: «Wir wollen sie in unser Kinderprojekt aufnehmen.» Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe unterstützt in der Stadt 1200 Kinder aus den ärmsten Familien umfassend. Auch ihre Eltern werden mit Berufsbildung gefördert. Die Familien sollen ihrer Perspektivlosigkeit ein für alle Mal entgehen (siehe Kasten). Wie könnte das gehen? «Wir brauchen mehr Einkommen, um das Essen und die Miete zahlen zu können», sagt Sosina.
«Der Vermieter will uns nicht, weil wir im Rückstand sind mit der Miete», bestätigt Hirut. «Er wirft uns auch vor, dass wir zu viel Strom brauchen für die Glühbirne abends.» Der Vater sei immer in Sorge wegen der Miete. «Wenn ich ihm sage: Ich brauche ein Heft für die Schule, dann sagt er: Lass uns zuerst die Miete zahlen.»
«Wenn die Zwillinge grösser sind, kann ich arbeiten. Kochen und waschen für die Nachbarschaft», sagt die Mutter. «Dann haben wir genug Geld.» Hirut schaut an die Wand. Man sieht ihr an, dass sie daran zweifelt, ob es ein besseres Leben für sie gibt.
Selbstbewusst und zuversichtlich
Ein Zeitsprung von eineinhalb Jahren. Die Kinder und die Mutter sind wie ausgewechselt: Bei einem erneuten Hausbesuch treffen die Besucher aus der Schweiz auf eine glückliche Familie. Wie viel die Körpersprache über das Seelenleben aussagt! Beim ersten Besuch sass Sosina Sisay zusammengesunken auf einem Hocker, sie sprach nur kurze Sätze, ohne Lächeln. Jetzt strahlen nicht nur die Augen, sondern das ganze Gesicht.
«Ich bin Händlerin geworden», erzählt Sosina. Vier Tage in der Woche ist Markt in Debre Berhan. «Zuerst habe ich Obst und Gemüse verkauft, aber viel davon ging kaputt. Jetzt habe ich mich auf langlebige Waren verlegt: Kaffee, Zucker, Tee, Räucherwerk.» Damit verdiene sie umgerechnet 30 bis 50 Franken pro Woche – und damit doppelt bis drei Mal so viel wie ihr Mann. Es ist genug, drei Mal am Tag zu essen und Hosen und T-Shirts für die Kinder zu kaufen. Die Eltern haben sich nicht nur ein Bett geleistet, sondern den Kindern auch ein kleines gebrauchtes TV-Gerät für 80 Franken gegönnt: «Dann bleiben sie zu Hause und hängen nicht bei den Nachbarn vor dem Fernseher», erklärt die Mutter.
Die Entscheidungen träfe sie mit ihrem Mann gemeinsam, auch wenn sie jetzt mehr verdiene, betont Sosina. «Früher haben wir viel gestritten. Ich habe mich viel beklagt, weil unser Leben so schlimm war. Jetzt diskutieren wir ruhig, was für die Familie am besten ist.» Das Ehepaar überlegt, dass der Vater das Tagelöhnen aufgibt und in den Handel seiner Frau einsteigt. «Auf den Märkten im Umland ist mehr zu verdienen, aber allein schaffe ich den Transport der Waren nicht.» Als mittelfristiges Ziel wollen sie sich eine Wohnung leisten, die nicht nur aus einem Zimmer besteht. «Früher fühlte ich mich als Bettlerin und minderwertig», sagt Sosina. «Jetzt gehe ich gerne aus dem Haus. Ich habe Freundinnen in der Nachbarschaft gefunden. Ich glaube daran, dass wir uns ein noch besseres Leben erarbeiten können.»
Für Sosina gibt es keinen Zweifel: «Ich habe alles Lemlem zu verdanken.» Die Sozialarbeiterin von Menschen für Menschen sorgte nicht nur dafür, dass die Familie materielle Hilfen bekam: zunächst Lebensmittel, dann Schulbedarf, auch Hygieneartikel. Vor allem sorgte Lemlem Tadesse dafür, dass Sosina zu anderen Frauen in ähnlicher Situation in eine Selbsthilfegruppe stiess. Dort bekamen die Frauen Schulungen im Gründen und Betreiben eines Kleingewerbes. Dann erhielt Sosina von der Äthiopienhilfe einen ersten Mikrokredit über umgerechnet 80 Franken, um damit ihren Kleinhandel zu beginnen – schnell konnte sie den Kredit zurückzahlen. Aber nicht nur das fachliche Wissen und das Startkapital waren wichtig, sondern auch die psychologische Unterstützung: «In manchen Wochen besuchte mich Lemlem täglich, um mir Hoffnung zu machen.»
«Den Frauen fehlt es an Selbstbewusstsein. Sie haben grosse Angst vor eigenen Initiativen und dem Aufnehmen von Mikrokrediten, weil sie fürchten, das Geld nicht zurückzahlen zu können», erklärt Sozialarbeiterin Lemlem Tadesse. «Wir versuchen, ihre Angst zu zerstreuen. Beispielsweise, indem wir sie mit anderen Frauen zusammenbringen, die unser Mikrokreditprogramm bereits erfolgreich durchlaufen haben.» Und Hirut? «Ohne Menschen für Menschen hätte ich die Schule abbrechen müssen», sagt die jetzt 14-Jährige, die in den vergangenen eineinhalb Jahren viele Zentimeter aufgeschossen ist. «Ich erinnere mich, wie mich der Direktor nach Hause schickte, weil meine Eltern kein Geld für eine Schuluniform hatten.» Ihre Mutter bat um einen Termin und flehte den Lehrer an, dass er Hirut auch ohne Uniform unterrichten möge. Die Erinnerung daran verschattet Hiruts Gesicht. Doch dann hellt es wieder auf. Sie sei weiter eine der besten Schülerinnen in der Klasse. «Ich will Medizin studieren!», erzählt sie von ihrem Traum.
Häufig sehe sie Eltern mit Kindern, die auf der Strasse lebten und an Kirchen im Freien übernachteten – bitterarme Zuwanderer vom Land, die hoffen, in der Stadt besser leben zu können. «Wenn sie krank werden, steht ihnen niemand bei», sagt Hirut. Deshalb wolle sie Ärztin werden. «Ich frage mich: Wie wäre es, in ihrer Lage zu sein? Dann denke ich: Du hast viel Glück, dass es dir besser geht! Deshalb möchte ich ihnen helfen.»
WARUM WIR HELFEN
Viele Familien in der Stadt Debre Berhan sind extrem arm. Es gibt kein Geld für Schulbedarf, in den engen Unterkünften herrscht Nahrungsmangel. Wir fördern 1200 besonders bedürftige Kinder und ihre Familien. Unser Konzept ist die «Hilfe zur Selbstentwicklung». Die Familien sollen möglichst rasch auf eigenen Beinen stehen, damit wir weiteren Familien Perspektiven geben können.
WAS WIR TUN
Einige unserer Aktivitäten:
- Zum Schulstart im September bekamen 1128 Kinder und Jugendliche Uniformen, Stifte und Hefte – jedes Kind hat ein Recht auf Schule!
- Die Familien haben kein Geld für Monatsbinden. Viele Mädchen gehen während ihrer Regel nicht zur Schule. Manche brechen die Schule ganz ab. Wir stellen 150 Mädchen Binden zur Verfügung.
- Die Wohnsituation ist häufig nicht menschenwürdig. Wir bauen Sozialwohnungen in traditioneller Lehmbauweise. Aktuell sind 90 Wohnungen fertiggestellt oder im Bau.
- Die Eltern, vor allem die Mütter, schulen wir in Selbsthilfegruppen. 400 von ihnen bekommen Mikrokredite über 80 bis 200 Franken, um ein Kleingewerbe zu beginnen.
WAS WIR ERREICHEN
Gewöhnlich können wir die Familien nach drei Jahren in die Selbständigkeit entlassen. Sie haben Perspektiven und können fortan unabhängig von fremder Hilfe ein menschenwürdiges Leben führen. An ihrer Stelle nehmen wir weitere notleidende Familien ins Projekt auf.