Schädliche Bräuche schaffen Leiden und hemmen die Entwicklung in Afrika
Zürich – Addis Abeba, 19. September 2019. Die Gründe für die Armut in Afrika sind vielfältig. Eine oft wenig beachtete Ursache sind schädliche Traditionen. Darauf weist Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe Menschen für Menschen hin. Die Schweizer Stiftung engagiert sich gegen Brautentführungen, Kinderheiraten und für Familienplanung.
Marta Berhane hatte bereits mit 14 Jahren einen Lebensplan: Sie wollte Ärztin werden. Doch dann lud eine Familie aus einem Nachbardorf das Mädchen zum Kaffee ein. Arglos nahm Marta die Einladung an. In der Lehmhütte wurde sie von einem Sohn der Familie vergewaltigt.
Der junge Mann sah seine Tat nicht als Verbrechen, sondern als Fortführung einer Tradition namens «Telefa»: Seit alters her hatten Männer in abgelegenen Regionen Äthiopiens junge Frauen entführt, ihnen Gewalt angetan und sie so zur Heirat gezwungen.
«Es ist wie ein Gesetz», erklärt Marta Berhane. «Wenn du einmal Sex mit einem Mann hattest, musst du ihn heiraten.» Eine Vergewaltigung ist nach dieser Tradition eine Entehrung, die der Frau keine Wahl lässt. Die einzige Möglichkeit, ihr Ansehen wiederherzustellen, ist die Heirat. Martas Eltern gaben ihre Tochter in die Ehe mit dem Täter. Mit 15 Jahren wurde sie Mutter und musste die Schule verlassen. Laut Studien ist in der äthiopischen Region Oromia jede zehnte verheiratete Frau durch eine Vergewaltigung zur Ehe gezwungen worden.
Schädliche Traditionen schwächen die Entwicklung
Auf staatlicher Ebene sind sowohl Vergewaltigung als auch Kinderehen verboten. In den vergangenen Jahren verstärkte die Regierung zudem Aufklärungskampagnen gegen schädliche Traditionen. «Zum Glück zeigt das Engagement der Behörden offenbar Wirkung», sagt Kelsang Kone, Geschäftsführer von Menschen für Menschen (www.mfm.ch): «Die Telefa-Tradition wird nach unserer Beobachtung inzwischen zurückgedrängt.» Doch weiterhin litten gerade die Mädchen unter schwerster Benachteiligung und Unterdrückung durch weitere schädliche Traditionen. «So ist es in den Dörfern sehr wichtig, dass Mädchen unberührt in die Ehe gehen. Kinderehen gelten als Weg, die Ehre der Mädchen – und damit der Familien – zu sichern.» Drei von zehn Bräuten in Äthiopien sind minderjährig. «Leider schwächen die frühen Ehen die Mädchen, ihre Familien – und die Entwicklung des ganzen Landes.»
Kinderbräute brechen gewöhnlich ihre Schule ab und bekommen viele Kinder. «Der Schulbesuch der Mädchen gilt als vernachlässigbar, weil ihr Platz traditionell in der Küche und bei den Kindern gesehen wird. Und grosse Familien gelten traditionell als Segen Gottes», erklärt Kelsang Kone. «Doch tatsächlich führen sie bei den mangelnden Ressourcen dazu, dass die Armut in der nächsten Generation noch grösser wird.»
Selbständig und selbstbewusst
Wer Armut bekämpfen wolle, müsse deshalb die schädlichen Traditionen bekämpfen. «Es geht um das Empowerment von Mädchen und Frauen: Sie müssen befähigt werden, sich zu wehren.» Im Sinne ihres Gründers Karlheinz Böhm setzt die Stiftung Menschen für Menschen auf gesellschaftliche Aufklärung einerseits und auf Bildung und Ausbildung von Mädchen und Frauen andererseits. «Im Schnitt gebären äthiopische Frauen ohne Schulbildung sechs Kinder – äthiopische Frauen mit Abschluss der Sekundarschule dagegen nur zwei Kinder», erläutert Kelsang Kone.
In lokalen Gruppen schliessen sich die ärmsten Mütter auf Initiative von Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe in Selbsthilfegruppen zusammen. Sie erhalten Schulungen und Mikrokredite. Damit können sie ein eigenes Gewerbe beginnen: «Wer sein eigenes Geld verdient, kann seine Interessen – und die der Töchter – selbstbewusst vertreten.»
Menschen für Menschen bildet ehrenamtliche Helfer aus, die in den Dörfern von Haus zu Haus gehen und über Familienplanung aufklären. Dadurch und durch einen vereinfachten Zugang zu Verhütungsmitteln entscheiden sich viele Eltern für weniger Kinder.
An den Schulen regt Menschen für Menschen die Gründung von Gruppen an, die sich gegen schädliche Traditionen einsetzen. Marta Berhane, Opfer von Vergewaltigung und Zwangsheirat, inzwischen 20 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern, setzt nach fünf Jahren Unterbruch ihre Schulbildung in der siebten Klasse fort – und ist an ihrer Schule im Dorf Odomike die treibende Kraft im «Schulclub für Gesundheit und Gleichberechtigung». Auf die Frage, ob sie ihren Mann liebt, antwortet sie ausweichend: «Wir haben zwei Kinder. Er ist gut zu mir.» Auf der Schulwiese hält sie regelmässig Vorträge vor ihren Mitschülern über schädliche Traditionen: «Ich möchte, dass anderen Mädchen mein Schicksal erspart bleibt.» Allen Widerständen trotzend, halte sie an ihrem Lebensziel fest: «Ich will Medizin studieren.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.
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