Zürich/Debre Berhan, 29. November 2023 – Wie muss Entwicklungshilfe gestaltet sein, damit sie wirkt? Karlheinz Böhm (1928 – 2014), der Gründer von Menschen für Menschen, setzte auf die «Hilfe zur Selbstentwicklung». Diese stützt sich auf zwei Säulen: Die Bedürftigen lernen von einheimischen Helfern. Und sie müssen Eigeninitiative zeigen. Dass das Konzept lebt, lässt sich bei Besuchen in einer Flüchtlingsfamilie in der äthiopischen Stadt Debre Berhan beobachten.
In der Familie herrschte Verzweiflung. Abush Tesfaye, der Vater, bot sich morgens als Bauhelfer oder als Träger auf dem Markt an. Oft vergeblich. «Wenn er zurückkam, schaute ich auf seine Hände», berichtet seine Frau Sosina Sisay. «Hatte er Geld oder Lebensmittel dabei?» Mindestens zwei Mal in der Woche kam der Vater mit leeren Händen nach Hause. «Dann verzichteten wir Eltern auf Essen.» Trotzdem hatten die Kinder Hunger. «Ich versuchte, sie abzulenken, sagte, dass ich gleich koche und hoffte, dass sie ihren Hunger vergessen», erinnert sich Sosina Sisay. «Aber natürlich vergassen sie ihn nicht. Es war schrecklich.»
Die Eltern und ihre vier Kinder sind Geflüchtete im eigenen Land – so wie 4.4 Millionen weitere Binnenflüchtlinge im Vielvölkerstaat Äthiopien. Lange haben Politiker die Volksgruppen gespalten, Misstrauen und Neid gesät. Die Armut ist ein fruchtbarer Boden, auf dem die Saat aufgeht. Sosina Sisay und ihr Abush Tesfaye gehören zur Volksgruppe der Amhara, lange lebten sie im Landesteil Oromia. Nachdem der Vater Todesdrohungen erhalten hatte, entschloss sich die Familie nach Debre Berhan im Landesteil Amhara zu fliehen.
Dort fand die Familie zwar Sicherheit, aber auch bittere Armut, aus der es keinen Ausweg zu geben schien – bis vor eineinhalb Jahren Lemlem Tadesse, Sozialarbeiterin im Kinderprojekt von Menschen für Menschen, auf sie aufmerksam wurde: Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe fördert in der Stadt 1200 Kinder aus den ärmsten Familien mit «Hilfe zur Selbstentwicklung». Das Prinzip zielt darauf ab, Familien in Äthiopien zu befähigen, sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien. Sie bekommen Fähigkeiten, um ihre Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten eigenständig zu verbessern.
Fokus auf die Frauen
Zunächst erhielten die Kinder Lebensmittel und Schulbedarf, um den Unterricht besuchen zu können. «Aber das war nur der erste Schritt», erklärt Sozialarbeiterin Tadesse. «Vor allem bringen wir die Mütter in Selbsthilfegruppen zusammen.» Bewusst lege man den Fokus auf die Frauen. Teils sind die Mütter alleinerziehend. Vor allem aber gehe es darum, das Potential der Frauen zu wecken. «Sie bekommen ganz verschiedene Schulungen. In Lebenskompetenzen etwa und in betriebswirtschaftlichen Grundlagen.» Die Frauen würden lernen, wie man auch wenig Geld langsam vermehren kann, wenn man ein Ziel vor Augen hat: «Wir stellen Mikrokredite in Aussicht, mit denen die Frauen in ein kleines Geschäft investieren können. Aber zunächst müssen sie kleine Beträge ansparen, um ihren Einsatz zu zeigen.»
Sosina Sisay bekam von der Äthiopienhilfe einen Mikrokredit über umgerechnet 80 Franken, um damit ihren Kleinhandel zu beginnen – rasch konnte sie den Kredit zurückzahlen. Aber nicht nur das fachliche Wissen und das Startkapital waren wichtig, sondern auch die psychologische Unterstützung, betont die Gründerin: «In manchen Wochen besuchte mich Lemlem täglich, um mir Hoffnung zu machen.»
Die Angst zerstreuen
«Den Frauen fehlt es an Selbstbewusstsein. Sie haben grosse Angst vor eigenen Initiativen und dem Aufnehmen von kleinen Geldbeträgen, weil sie fürchten, sie nicht zurückzahlen zu können», erklärt Lemlem Tadesse. «Wir versuchen, ihre Angst zu zerstreuen. Beispielsweise, indem wir sie mit anderen Frauen zusammenbringen, die unser Mikrokreditprogramm bereits erfolgreich durchlaufen haben.» Binnen weniger Monate wurde Sosina Sisay eine erfolgreiche Kleinhändlerin.
Vier Tage in der Woche ist Markt in Debre Berhan. «Zuerst habe ich Obst und Gemüse verkauft, aber viel davon ging kaputt. Jetzt habe ich mich auf langlebige Waren verlegt: Kaffee, Zucker, Tee, Räucherwerk.» Damit verdiene sie umgerechnet 30 bis 50 Franken pro Woche – und damit doppelt bis drei Mal so viel wie ihr Mann mit seinen Tagelöhner-Jobs. Es sei genug, drei Mal am Tag zu essen und Kleidung für die Kinder zu kaufen. Die Eltern haben sich nicht nur ein Bett geleistet, sondern den Kindern auch ein kleines gebrauchtes TV-Gerät für 80 Franken gegönnt: «Dann bleiben sie zu Hause und hängen nicht bei den Nachbarn vor dem Fernseher», erklärt die Mutter.
Die Entscheidungen träfe sie mit ihrem Mann gemeinsam, auch wenn sie jetzt mehr verdiene, betont Sosina Sisay. «Früher haben wir viel gestritten. Ich habe mich oft beklagt, weil unser Leben so schlimm war. Jetzt diskutieren wir ruhig, was für die Familie am besten ist.» Das Ehepaar überlegt, dass der Vater das Tagelöhnen aufgibt und in den Handel seiner Frau einsteigt. «Auf den Märkten im Umland ist mehr zu verdienen, aber allein schaffe ich den Transport der Waren nicht.»
Als mittelfristiges Ziel wollen sie sich eine Wohnung leisten, die nicht nur aus einem Zimmer besteht. «Früher fühlte ich mich minderwertig», sagt Sosina Sisay. «Jetzt gehe ich gerne aus dem Haus. Ich habe Freundinnen in der Nachbarschaft gefunden. Ich glaube daran, dass wir uns ein noch besseres Leben erarbeiten können.»
Ein stabiles Einkommen
Für Sosina Sisay gibt es keinen Zweifel: «Ich habe alles Lemlem zu verdanken. Mehr noch als das Wissen war das Selbstbewusstsein wichtig, das ich durch sie gewonnen habe.» Insgesamt hat Menschen für Menschen im vergangenen Jahr in der Stadt Debre Berhan 498 Frauen in 26 Selbsthilfegruppen organisiert. «Ich bin in unserem Projekt verantwortlich für fünfzig Familien: Nach drei Jahren Begleitung können wir die allermeisten aus dem Projekt entlassen», sagt Lemlem Tadesse. «Weil die Mütter so wie Sosina durch unsere Unterstützung ein stabiles Einkommen gefunden haben.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.
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