Vollmilch tanken, bitte!
Glück und Leid liegen oft nahe beieinander: Der Ehemann von Etagegnhu Wolderufael ist erblindet. Trotzdem gehe es der Familie besser als früher, sagt die Mutter dreier Buben: «Hunger und Not sind für uns vorbei.» Das liegt an der frischen Vollmilch, die Etagegnhu jetzt jeden Tag verkauft.
DIE STADT WÄCHST, die Behausungen aus Wellblech fressen sich in die Felder des Hochlands. Das funkelnagelneue Blech der Dächer gleisst so stark in der Sonne, dass der Blick darauf die Augen schmerzt. Debre Berhan liegt auf 2800 Metern Höhe, also 300 Meter höher als der Säntis-Gipfel. Der Name der Stadt heisst auf Deutsch: «Berg des Lichts».
Abebe Aseffa sieht kein Licht mehr. Immer schlechter wurden seine Augen. Seit acht Monaten ist er auf beiden Augen blind. «Die Dächer sind schuld», sagt er. «Sie haben mich geblendet.»
Tatsächlich leidet er am «Grünen Star». So hat es ein Arzt am Krankenhaus der Stadt diagnostiziert. Wird das Leiden rechtzeitig erkannt, kann man die Erblindung meist verhindern – in reichen Ländern jedenfalls. Armen Menschen in Äthiopien ist die Rettung des Augenlichts kaum vergönnt.
Abebe Aseffa möchte nicht fotografiert werden. Gewöhnlich sitzt oder liegt er in der Dunkelheit des fensterlosen Schlafzimmers. «Er fühlt sich schlecht, weil er meint, nutzlos geworden zu sein», sagt seine Frau Etagegnhu Wolderufael. «Aber ich tröste ihn: Wir sind gar nicht mehr auf seinen Lohn angewiesen.»
Sie ist jetzt allein verantwortlich für die drei Söhne. Dawit ist 17 und schon aus dem Gröbsten raus, aber Mikias und Getabalew sind erst neun und sieben Jahre alt. Gewöhnlich ist es eine Katastrophe für eine arme Familie, wenn der Vater als Ernährer ausfällt. Doch Etagegnhu ist voller Zuversicht. «Es schmerzt mich, dass mein Mann leidet. Aber verglichen mit früher ist unsere Situation gut», betont sie: «Ich habe keine Angst mehr, dass meine Kinder hungern. Sie gehen zur Schule, haben eine Zukunft. Das ist mehr, als ich erwarten konnte vom Leben.»
Die Sätze der Mittdreissigerin versteht man nur, wenn man um ihre Vergangenheit weiss. Vor drei Jahren noch lebte die ganze Familie in einem winzigen Zimmer. «Mein Mann und ich arbeiteten als Tagelöhner auf dem Bau, ausserdem wusch ich die Wäsche von Nachbarn. Aber das Geld reichte nicht. Wir sind oft schlafen gegangen, ohne gegessen zu haben.» Heute dagegen lebe sie in einem kleinen, mit eigenem Geld gebauten Lehmhaus. «Vor allem habe ich keine Sorgen mehr, ob ich das Schulgeld bezahlen kann. Ich kann den Buben das Essen kaufen, das sie wollen. Sogar Spaghetti.»
Der Grund für diesen in äthiopischen Augen relativen Wohlstand schnaubt in einem Verschlag neben dem Haus: eine Milchkuh. Keine lokale Rasse, sondern eine Holstein-Kuh, die besonders viel Milch gibt. Sie hat vor zwei Wochen gekalbt und das Kälbchen darf sich morgens und abends satttrinken. Trotzdem landen täglich acht Liter Vollmilch in Etagegnhus Melkeimer – ein Schatz.
«Milch ist ein knappes Gut in der Stadt», erzählt Etagegnhu und lächelt. Täglich kann sie die Milch für umgerechnet sechs Franken verkaufen. Hinzu kommen noch die Eier von elf Hennen, die sie feilbietet. Abends flicht Etagegnhu Körbe und näht Säume an traditionelle Kleider, die sie zusätzlich verkauft. Ihr Einkommen hat sich fast verzehnfacht, auf 90 Franken im Monat. Damit verdient sie mehr als ein Lehrer.
Die beiden jüngsten Buben kommen von der Schule nach Hause. Die Mutter tischt Brot und selbstgemachten Joghurt auf. Die Buben essen und trinken nach Herzenslust. Über ihren Oberlippen leuchten Milchbärte. Plötzlich schimmern Etagegnhus Augen feucht. «Wie gut es ihnen jetzt geht!», ruft sie aus. «Und das ist alles Lemlems Verdienst!»
Lemlem Tadesse, 40, ist eine von acht Sozialarbeiterinnen im Kinderprojekt von Menschen für Menschen, sie hat die Reporter vom NAGAYA MAGAZIN zu Etagegnhu geführt. Die Aufgabe der Sozialarbeiterinnen ist es, für die 1200 ärmsten Kinder in Debre Berhan Lebensperspektiven zu schaffen – und dies funktioniert vor allem über das Fördern und Ermutigen der Mütter. «Lemlem gab mir Rat, war für mich da», sagt Etagegnhu. «Sie war wie eine Mutter für mich.» Sie umarmt die Sozialarbeiterin und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Lemlem Tadesse lacht. Dann zeichnet sie den Erfolgsweg von Etagegnhu nach.
Menschen für Menschen bringt arme Frauen in Selbsthilfegruppen zusammen. «Dort erklären wir, wie man auch wenig Geld langsam vermehren kann, wenn man ein Ziel vor Augen hat: Wir stellen Mikrokredite in Aussicht, mit denen die Frauen in ein Gewerbe investieren können», erklärt die Sozialarbeiterin. «Aber zunächst müssen sie kleine Beträge selbst ansparen, um ihren Einsatz zu zeigen.» Oft hätten die Frauen Angst vor einem Mikrokredit, weil sie befürchten, ihn nicht zurückzahlen zu können. Auch Etagegnhu war skeptisch und brauchte Ermutigung: «Es war vor Ostern», erinnert sich Lemlem. «Alle Leute machen zum Fest Poulet. Ich riet Etagegnhu, mit dem erhaltenden Geld in den Dörfern der Umgebung günstig Hühner zu kaufen und in der Stadt teurer zu verkaufen.» Es funktionierte. «Sie machte guten Gewinn und konnte den Kredit von umgerechnet 87 Franken schnell zurückzahlen.» Mit dem Folgekredit kaufte die Mutter ein Kalb, mästete es – und verkaufte es wieder, für mehr als das Doppelte des Einkaufspreises. «So wurde sie endlich selbstbewusster und nahm einen grösseren Kredit auf, kaufte 50 Masthühnchen.» Auch diese verkaufte sie mit Gewinn – und konnte damit die Milchkuh anschaffen.
Die Sozialarbeiterin betont, dass Etagegnhu kein Einzelfall ist: «Ich bin in unserem Projekt verantwortlich für fünfzig Familien: Nach drei Jahren Begleitung können wir die allermeisten aus dem Projekt entlassen – weil die Mütter so wie Etagegnhu durch unsere Unterstützung ein stabiles Einkommen gefunden haben.»
Etagegnhu bietet auch Lemlem und den Besuchern aus der Schweiz Joghurt an: «Ihr habt dafür gesorgt, dass meine Familie zu essen hat. Heute sorge ich für euch.» Die Milchspeise schmeckt sauer und frisch. «Ich brauche keine Hilfe mehr. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben», sagt Etagegnhu. «Aber es gibt noch so viele, denen es so schlecht geht, wie es mir früher ging.» Deshalb habe sie nur noch einen einzigen Wunsch: «Macht bitte weiter mit eurer Hilfe in unserer Stadt!»
WARUM WIR HELFEN
Die ärmsten Kinder in der Grossstadt Debre Berhan sind mangelernährt und können nicht zur Schule, weil die Eltern so arm sind, dass ihnen sogar Geld für Schulmaterial und -kleidung fehlt.
WAS WIR ERREICHEN
- Die 1200 geförderten Kinder müssen die Schule nicht mehr aufgrund von Armut abbrechen, weil wir Schulbedarf, Uniformen und Lebensmittel bereitstellen.
- 120 Frauen haben sich im vergangenen Jahr in sieben neuen Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen.
- 348 Frauen nahmen Mikrokredite auf, im Durchschnitt 75 Franken, um ein kleines Geschäft beginnen zu können, sei es Gemüsehandel, ein Strassenimbiss – oder die Aufzucht von Ziegen, Schafen oder Kühen mit Milchverkauf.