Die Wüste lebt!
Dieser Artikel erschien gekürzt in der 46. Ausgabe 2018 des Migros Magazins
Durch Klimawandel und Dürre verhungert immer wieder das Vieh der Afar-Hirten in Äthiopien. Dann fürchten sie um das Leben ihrer Kinder. Doch nun atmen viele Familien auf: Der Migros Unterstützungsfonds macht zusammen mit dem Hilfswerk Menschen für Menschen die Savanne zu einem blühenden Garten.
Wolleo Hassan und seine Familie sind jetzt nicht mehr nur von ihren Ziegen abhängig.
Als Wolleo geboren wurde, brachte der Vater eine neugeborene Ziege in die Hütte. Der Vater band die Nabelschnur des Säuglings und die Nabelschnur der Ziege zusammen. «Künftig gehörten alle Nachkommen dieser Ziege mir», erzählt Wolleo Hassan, 36. Der archaische Brauch unter den Hirten vom Stamm der Afar symbolisiert, dass ihr Schicksal untrennbar mit ihrem Vieh verknüpft ist.
Was das bedeutet, zeigte sich vor zwei Jahren. Der Regen blieb aus und die Savanne wurde zu einer lebensfeindlichen Wüste. Zuerst verhungerten und verdursteten die Rinder und Schafe, dann die Kamele. Zuletzt verstummte das Meckern der Ziegen. Wolleo verlor 40 Geissen. «Nur eine Handvoll konnten wir am Leben halten», sagt der Hirte, der mit seiner Frau Geja und dem siebenjährigen Hassan in Subuli im Bezirk Bure Mudaytu lebt: «Ich hatte extreme Sorge, meine Familie nicht mehr ernähren zu können.»
In der Innerschweiz fallen pro Jahr auf jeden Quadratmeter 2000 Liter Regen; pro Tag verbraucht jeder Einwohner der Schweiz in zuhause 142 Liter Wasser: In der Schweiz ist nichts vom sogenannten «Wasserstress» zu spüren, unter dem die weltweite Nahrungsmittelproduktion im Klimawandel leidet: Niederschläge fallen in Ländern des Südens in kürzerer Zeit, werden schwächer oder bleiben ganz aus. In den ärmsten Ländern wie Äthiopien sind vor allem Kleinbauern und Hirten betroffen, deren Existenz völlig von der Produktion ihrer Nahrungsmittel abhängt. Mit dem Geld aus Viehverkäufen kaufen die Afar-Hirten Getreide. Fehlen dieses Geld und die Milch der Tiere, hungern die Familien.
Deshalb fördert der Migros Unterstützungsfonds ein Projekt von Menschen für Menschen: Das Schweizer Hilfswerk errichtet am Arso eine Bewässerungs-Infrastruktur. Dieser Fluss führt das ganze Jahr über Wasser aus dem Hochland heran. Sein Wasser blieb bislang ungenutzt, es fliesst in den Awash River, der in den Abbe-Salzsee mündet. Das Hilfswerk errichtete eine Uferschutzmauer und einen teils gemauerten 3,5 Kilometer langen Hauptkanal, von dem ein Netz an Erdkanälen abzweigt. Die Bewässerungsinfrastruktur macht 150 Hektar trockene Savanne zu Gärten und Äckern. Jede Familie bekommt Zugang zu einer Fläche, die so gross ist wie ein halbes Fussballfeld. Dank Bewässerungsplänen können insgesamt 300 Familien ihre Flächen intensiv bebauen. Händler fahren mit Lastwagen über Staubpisten ins entlegene Subuli, um die Ernten abzunehmen.
Der Hirte Wolleo Hassan ist jetzt auch Bauer und bestellt sein bewässertes Maisfeld.
«Nachdem wir in der Dürre unsere Ziegen verloren hatten, konnte ich bei den Bauarbeiten helfen und bekam dafür eine Entlohnung», berichtet Wolleo Hassan. «So konnten wir trotz dem Verlust unserer Herde überleben.» Im Schulungsgarten hat der 36-Jährige gelernt, wie man Mais, Sesam, Peperoni, Zwiebeln und Sesam anpflanzt. Die erste Ernte auf dem ihm zugewiesenen Landstück haben ihm 70 Säcke Maiskolben eingebracht. Die Hälfte davon verkaufte er, der Rest ernährt seine kleine Familie und Verwandte. «Unser Ziegenbestand hat sich inzwischen wieder erholt», sagt der Hirte, der zum Nebenerwerbs-Landwirt wurde: «Jetzt fühlen wir uns sicher. Vor einer neuen Dürre brauchen wir uns nicht mehr fürchten.»
Die Hirten bauen auf ihrem Gartenland auch Futtergras an. Die Jungen und Männer streifen nicht mehr Hunderte Kilometer weit durch die Savanne, bewaffnet mit alten Gewehren zum Schutz vor Hyänen und Viehdieben. «Das Vieh bleibt in der Nähe. Davon haben wir nur Vorteile», erklärt Wolleo. Das Vieh sei gesünder, denn beim weiten Umherstreifen würden die Tiere von Zecken geplagt und geschwächt. «Vor allem sind wir aber nicht mehr von unseren Freunden und unserer Familie getrennt.» Gerade werde in Subuli eine Schule errichtet. «Ich konnte nicht zur Schule gehen, aber mein Sohn wird alles lernen, was notwendig ist.» Als sein Sohn zur Welt kam, habe er das Ritual mit der Nabelschnur nicht durchgeführt, erzählt Wolleo: „Sein Leben soll nicht nur mit Ziegen verknüpft sein.“