«Addis Abeba» heisst übersetzt: «Neue Blume». An Ausfallstrassen der äthiopischen Hauptstadt mit zügiger Anbindung an den Flughafen blühen tatsächlich Millionen Rosen in riesigen Gewächshäusern. Durch die Energiekrise in Europa erlebt die Blumenindustrie Äthiopiens ihren grössten Boom. Doch die Menschen im Land profitieren nur wenig davon.
Kaffee ist das wichtigste Exportgut Äthiopiens, gefolgt von Blumen. 183’000 Beschäftigte in 84 Unternehmen in der Blumenbranche sorgen für Exportumsätze von rund 200 bis 400 Millionen US-Dollar pro Jahr. Damit machten im Jahr 2020 Blumen laut der «National Bank of Ethiopia» ein Siebtel der gesamten Exporteinnahmen des Landes aus.
Im jüngsten äthiopischen Steuerjahr konnte diese Summe noch weiter gesteigert werden: Die Frachtflieger von Ethiopian Airlines brachten Blumen im Gesamtwert von 628 Millionen US-Dollar ausser Landes, vor allem Rosen. Damit ist Äthiopien der fünftgrösste Exporteur von Blumen nach den Niederlanden, Kolumbien, Ecuador und Kenia.
Grund für den Boom in den Wintermonaten sei auch die Energiekrise in Europa aufgrund des Ukraine-Kriegs, sagte Tewodros Zewdie, Vorstand der «Ethiopian Horticulture Producers and Exporters Association», Ende Dezember 2022 der äthiopischen Zeitung «The Reporter». Die Kosten für Heizung und Beleuchtung von Gewächshäusern in den Niederlanden und anderen europäischen Erzeugerländern seien so hoch geworden, dass einige Produzenten aufgeben müssten. Andere versuchten Energiekosten einzusparen, worunter die Qualität der Blumen leide.
Vor allem Frauen arbeiten in der Blumenindustrie Äthiopiens – häufig unter unwürdigen Bedingungen (Foto: Mogens Engelund)
«Unsere Luftfrachtkosten sind sogar günstiger als in anderen Erzeugerländern wie Kenia», freut sich Tewodros gegenüber der Zeitung. «Mit der Existenz von Ethiopian Airlines und der Stärke der Betriebe sind wir jetzt in einer besseren Position.» Allein zum Valentinstag 2022 flog die Cargo-Tochter der Airline innerhalb von zwei Wochen 110 Millionen Blüten aus Kenia und Äthiopien in gekühlten Frachträumen in die reichen Länder Europas, Asiens und die USA.
Die Frachtkosten sind Teil des Problems: Die Produzenten können diese Kosten nicht umgehen, also versuchen viele, an den Lohnkosten zu sparen. Bei den Arbeitern in der Branche bleibt nur ganz wenig Geld hängen. 59 Prozent der Produktionskosten macht laut einer Studie die Flugfracht in die reichen Länder aus. Verpackungsmaterialien schlagen mit elf Prozent der Kosten zu Buche. Dünger und Chemikalien mit 19 Prozent – die meisten dieser Produktionsmaterialien müssen aus den entwickelten Ländern importiert werden, fliessen also wieder in den Norden ab. Lediglich elf Prozent werden für die Löhne der Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen (80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen) aufgewendet. Damit passt ein Spruch von kolumbianischen Blumenarbeitern auch auf die äthiopischen Kolleginnen und Kollegen:
«Die Liebenden bekommen die Blüten, die Arbeiter die Dornen.»
Oft sind sie nur unzureichend geschützt den Pestiziden ausgesetzt. Nach einer Befragung aus dem Jahr 2016 wurden Arbeiterinnen mit 39 Euro Monatslohn abgespeist. Viele Betreiber erlauben den Arbeitern nicht, sich in Verbänden zusammenzuschliessen. Einem Bericht der «Global Living Wage Coalition» aus dem Jahr 2018 zufolge sind die Löhne der Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Blumenfarmen derart tief, dass sich die Arbeiter und ihre Familien nicht einmal eine nahrhafte Grundmahlzeit pro Tag leisten können – selbst wenn dies ihre einzige Ausgabe wäre. Der Bericht weiter: «Vielen äthiopischen Blumenfarmarbeitern geht gegen Ende des Monats das Geld für Lebensmittel aus, so dass sie oft darauf zurückgreifen, Lebensmittel auf Kredit zu kaufen.» Ein existenzsichernder Lohn müsste zweieinhalb bis drei Mal so hoch wie der tatsächliche Lohn sein.
Menschen für Menschen will mit seinen landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten nicht die Exportwirtschaft, sondern kleinbäuerliche Strukturen stärken. Die Familien sollen auf ihrem eigenen Land die Erträge steigern, um ihre eigene Versorgung sicherzustellen, statt in prekären Arbeitsverhältnissen zu verharren. Sie sollen aber möglichst auch noch Überschüsse produzieren – an Grundnahrungsmitteln für die lokalen Märkte. Beispielsweise helfen Bewässerungsanlagen, dass weniger Weizen nach Äthiopien importiert werden muss.
Abseits der Gewächshäuser wird Äthiopien nicht von dornigen Rosen, sondern von einer auf den ersten Blick ganz unscheinbaren Blume dominiert, gerade auch zum äthiopischen Neujahr im September. Die kleinen «Meskel»-Wiesenblüten sind für die Menschen ein Symbol für die Schönheit ihrer Heimat: Millionen und Abermillionen davon überziehen die Landschaft dann mit einem leuchtend gelben Teppich.
Die Stiftung Menschen für Menschen fördert die Unabhängigkeit von Frauen mit Mikrokrediten und fördert die landwirtschaftliche Entwicklung der Kleinbauern. Erfahren Sie mehr über unsere Projekte: