Jemila, Mutter von Drillingen, macht unsere Berufsausbildung:
«Ich kann es schaffen!»
Touristen zieht es häufig nach Arada in Addis Abeba. Hier liegt die Piazza, ein belebtes Geschäftsviertel, die St. Georges-Kathedrale und der Mercato, der grösste Freiluftmarkt Afrikas mit seinem bunten und chaotischen Treiben. Arada ist eines der ältesten Gebiete in der äthiopischen Hauptstadt, entlang der engen und abfallenden Strassen stehen zweistöckige Gebäude, teils mit Veranden und Erkern verziert, die zeigen, wie indische, arabische und europäische Einflüsse miteinander wetteiferten. Gassen zweigen von den Strassen ab, in einer davon nächtigt Jemila mit ihren Drillingen: Beemnet und Befikir, zwei Mädchen, und Besufikad, der Bub. Zweieinhalb Jahre sind die Kinder alt.
Sie schlafen in einer Herberge, wie sie sicherlich im 19. Jahrhundert auch im hintersten Hinterhof von Berlin oder Paris zu finden waren. Dass es ein solches Nachtasyl heute noch gibt, schockiert den Besucher. Hinter einer Holztür führt ein klaustrophobisch enger Gang ins Dunkle wie ein Stollen in ein Bergwerk. Im Schein der Smartphone-Lampe sieht man links und rechts Kabinen mit Sperrholz abgetrennt und mit Vorhängeschlössern gesichert. Die Kabinen sind gerade so gross, dass man ausgestreckt darin liegen kann: Das sind die besten Zimmer in diesem Etablissement.
Man geht vorbei an zwei offenen Kojen, auch sie werden nachts an obdachlose Gäste vermietet. Am Ende des Gangs liegt eine steile Stiege. Wenn man die Stufen hinaufklettert, kommt man zu einem Matratzenlager. Auf dünnem Schaumstoff auf dem Boden schlummern und schnarchen hier bis zu 14 Gäste Körper an Körper. 70 Rappen kostet die Übernachtung.
Bei der Stiege am Ende des Gangs liegt auch ein Bad, das diese Bezeichnung nicht verdient. Die Blechtür klemmt, sie wehrt sich mit einem hässlichen Schnarren. Wenn man sie mit Kraft aufgerissen hat, sieht man im Licht einer Funzel ein Loch im Boden für die Notdurft und ein hüfthohes Rohr mit einem Wasserhahn über einer gelben Plastiktonne. Direkt neben dem Bad liegt die Kabine von Jemila, in der sie mit ihren Kindern schläft. «Leider wachen sie nachts oft auf, wenn die Gäste die Toilette aufsuchen», sagt sie. «Manche sind betrunken und laut.»
Besufikad stört der Lärm am wenigsten. «Er ist eher tagsüber schwierig», erzählt Jemila. «Er hat einen starken Willen und Wutausbrüche, wenn er ihn nicht bekommt.» Beemnet hat ein sanftes Wesen, sie schläft schnell wieder ein. Aber ihre Schwester Befikir ist quengelig. «Sie braucht viel Nähe», erzählt Jemila. «Am liebsten hängt sie die ganze Zeit an mir.»
Die Gäste zahlen für die Nacht, morgens müssen sie das Quartier verlassen. «Ein richtiges Zimmer, wo ich die Miete einen Monat im Voraus zahlen muss, kann ich mir nicht leisten», sagt Jemila. «Deshalb miete ich mir ein Bett Nacht für Nacht.» Jemilas Kabine kostet eigentlich 100 Birr, umgerechnet 1,66 Franken. Aber der Besitzer der Herberge habe Mitleid mit ihr, deshalb zahle sie die Hälfte der offiziellen Miete.
Manchmal bekommt sie in der Nachbarschaft einen Auftrag, Wäsche zu waschen oder Fladenbrot zu backen. Für einen Tag am Ofen oder am Zuber erhält sie umgerechnet fünf Franken. Die Kinder sind währenddessen bei einer Frau aus dem Viertel. Aber es ist schwierig, immer einen Babysitter zu finden. Deshalb lebt Jemila auch von dem Geld, das ihr Leute aus der Nachbarschaft zustecken. Die Nachbarn geben ihr vom Abendessen ab und kaufen Kleider für die Kinder: Die Armenviertel in Addis Abeba sind eng, aber die Menschen darin sind sich oft näher als die Bessergestellten. «Die Leute hier mögen uns», erzählt Jemila. Wenn sie mit den Drillingen durch die Gasse geht, bleiben die Leute lächelnd stehen, scherzen mit ihr und streichen den Kleinen über die Haare.
So lebte Jemila bislang einen Tag nach dem anderen, immer von der Hand in den Mund. Da waren auch viele Glücksmomente. Die Aufmerksamkeiten der Nachbarn und deren Freude an den Kleinen machten Jemila froh und stolz. Nur: Was war die langfristige Perspektive? Es gab keine.
Alleinerziehende Mütter sind die Schwächsten in der Gesellschaft Äthiopiens. Es kommt oft vor, dass Männer die übergrosse Armut nicht ertragen und ihre Familien verlassen, um anderswo in dem riesigen Land ein neues, leichteres Leben zu beginnen. Aber die Mütter bleiben.
Meist jedenfalls. Jemila hatte nicht das Glück, bei einer liebenden Mutter aufzuwachsen. «Sie gab mich weg, als ich noch ein kleines Kind war.» Doch die Adoptivmutter wollte keine Tochter, sondern eine Magd: «Sie liess mich nicht zur Schule gehen. Ich musste Wasser holen, Holz sammeln, Kaffeekirschen pflücken.» Mit 15 floh Jemila in die Stadt. Sie arbeitete in den Küchen von Lokalen, später bediente sie in Bierschenken und Schnapsspelunken. Sie erzählt offen von ihrer Jugend und dass nirgends ein guter Platz für sie war. Nur wenn man sie nach dem Vater der Drillinge fragt, wird sie einsilbig: «Das war nichts.»
Menschen für Menschen will jungen Frauen wie Jemila mit einer Ausbildung zur Hauswirtschafterin helfen. Seit zwei Wochen kommt sie nun jeden Tag in die Lehrküche. Es gibt dort auch Klassenzimmer für den theoretischen Unterricht und ein Hotelzimmer nach internationalem Standard, um den Zimmerservice zu üben. Jeweils 120 bis 140 Frauen durchlaufen die halbjährlichen Kurse. Bislang haben 1580 Frauen die Ausbildung abgeschlossen – und damit die Möglichkeit, in Restaurants und Hotels zu arbeiten oder selbständig Teestuben, Imbisse oder Esslokale zu eröffnen. Die Ausbildung geniesst einen guten Ruf. Unsere Partnerorganisation «Abebech Gobena Charity» führt die Ausbildung durch, sie ist gut vernetzt bei Arbeitgebern, weshalb der Abschluss fast einer Garantie auf einen Job gleichkommt.
Zunächst glaubte Jemila nicht, die Ausbildung machen zu können, wegen der Kinder. Doch für alleinerziehende Mütter bietet Menschen für Menschen zusätzlich zum Unterricht für deren Kinder Plätze in der projektbegleitenden Tagesstätte an. «Ich war früher oft verzweifelt», sagt Jemila. «Wenn die Kinder tagsüber müde waren und einen Mittagsschlaf brauchten, hatten wir keinen Rückzugsort. Wir waren ja tagsüber auf der Strasse!»
Jetzt dagegen brauche sie sich keine Sorgen um die Kinder zu machen, in der Kita seien sie gut versorgt. Zwei Frauen kümmern sich dort um die Kleinen, singen und spielen mit ihnen, und Schlafplätze für ein Nickerchen gibt es auch. «Meine Verzweiflung ist verschwunden», sagt Jemila. «Ich habe Hoffnung.»
Nach dem Ende der Ausbildung möchte sie in einer Restaurantküche arbeiten: «Damit habe ich schon Erfahrung. Ich bin schnell und geschickt. Und Kochen macht mich happy.» Mit einem festen Einkommen könnte sie ein festes Zimmer mieten und eine Tagesmutter für die Kinder entlohnen, überlegt sie: Es gibt in den Armenvierteln viele Frauen mit Kindern, die als Ungelernte keine Stelle finden und sich gerne ein Zubrot verdienen, indem sie auf andere Kinder aufpassen. «Und später sollen sie in die Schule gehen, um einmal einen guten Beruf zu haben.»
Ein Zuhause statt nur einer Bleibe für die Nacht. Sicherheit statt Ungewissheit. Einen Platz im Leben: Das sind die Träume von Jemila für sich und ihre Drillinge.
Berufsbildung als Ausweg aus extremer Armut
Was kostet es, einer jungen Frau und ihrer Familie eine Zukunft zu ermöglichen? 270 Franken investieren wir in die halbjährige Ausbildung zur Hauswirtschafterin, inklusive aller Unterrichts- und Materialkosten. Damit werden die Absolventinnen unabhängig von weiterer Hilfe.
Mit 90 Franken finanzieren Sie einer jungen Frau zwei Monate lang die Ausbildung und damit einen grossen Schritt in ein selbstbestimmtes Leben.