Fünf Jahre lang lebte eine Äthiopierin als Sklavin in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dann gelang ihr die Flucht.
Für die Äthiopierin Hayat Nuredin steht heute Lesen und Schreiben auf dem Lehrplan, später kommt noch Rechnen dazu. Draussen vor dem Klassenraum stampfen derweil die Teilnehmerinnen eines anderen Kurses Hirse, und wieder andere sortieren Gewürze. 140 Frauen sollen hier fit gemacht werden fürs Berufsleben: sechs Monate Crash-Kurs, jeden Tag von acht bis zwölf Uhr.
Portrait von Hayat Nuredin.
Für Hayat Nuredin, 30 Jahre, Analphabetin, ist der Kurs in der Hauptstadt Addis Abeba vielleicht die letzte Chance, eine Arbeit zu finden, mit der sie ihre beiden Kinder ernähren und zur Schule schicken kann. Seit sie sich von ihrem Mann getrennt hat, ist sie auf die Hilfe durch eine ihrer Schwestern angewiesen. Wenn sie den Kurs abgeschlossen hat, möchte sie selbständig als Köchin arbeiten. Das ist ihr Traum.
Hayat Nuredin hat nie selbst eine Schule besuchen können. Sie kommt aus einer armen Familie, hat acht Geschwister. Die Eltern, einfache Händler, starben früh. Die Kinder mussten auf der Strasse Gemüse verkaufen und in den Kaschemmen Nüsse und Kaugummi an arbeitslose Säufer. Das möchte Hayat Nuredin ihren eigenen Kindern ersparen, und möglichst schnell möchte sie auch das Martyrium vergessen, das sie danach erlebte: Sieben Jahre lang wurde sie als Sklavenarbeiterin in Dubai ausgebeutet.
Dieses Schicksal teilt sie mit Hunderttausenden anderer äthiopischer Frauen, die in arabischen Ländern ihr Glück suchten. Allein im Jahr 2013 sollen nach Schätzungen der „International Labour Organization“ 460 000 Äthiopierinnen im Nahen Osten gearbeitet haben. Damals sickerten erste Berichte über die Grausamkeit durch, mit der sie dort behandelt wurden. Ein Video kursiert immer noch im Internet, das zeigt, wie eine Äthiopierin von ihren libanesischen Peinigern an den Haaren in ein Auto gezerrt wird. Später nahm sich die junge Frau das Leben. Die äthiopische Regierung verbot damals offiziell, dass Äthiopier im Ausland arbeiten. Es gibt ein anderes Video, in dem zu sehen ist, wie eine Äthiopierin sich verzweifelt an den Fensterrahmen im siebten Stock eines Hochhauses klammert und um Hilfe schreit. Doch statt sie zu retten, filmte die kuwaitische Arbeitgeberin in aller Ruhe, wie ihre Putzfrau panisch um Hilfe flehte, schliesslich in die Tiefe stürzte und auf dem Boden aufschlug. Nur mit Glück überlebte die Äthiopierin den Sturz.
Doch auch nach diesen Bildern war der Strom von Äthiopierinnen auf die arabische Halbinsel kaum zu stoppen, das Arbeitsverbot der Regierung nicht zu kontrollieren, und im Februar dieses Jahres wurde es sogar wieder aufgehoben. Äthiopien leidet unter einem enormen Bevölkerungswachstum. In den letzten dreissig Jahren hat sich die Einwohnerzahl des bitterarmen Landes etwa verdoppelt, auf mehr als hundert Millionen. Das Durchschnittsalter liegt bei gut 17 Jahren; der Druck wächst. Erst vor einigen Wochen kenterte ein Boot mit 30 äthiopischen und somalischen Glücksrittern, die sich in den Jemen durchschlagen wollten.
Seit November wurden allein aus Saudi-Arabien 14 000 Äthiopier ausgewiesen. Nun soll die Arbeit bei den Arabern besser organisiert werden; staatliche Agenturen sollen helfen. Gut möglich, dass sich bald wieder Zehntausende Äthiopierinnen auf den Weg machen. Hayat Nuredin aber würde um keinen Preis der Welt wieder dorthin gehen. „Wir Afrikaner stehen dort auf der untersten Stufe der Hierarchie und haben keine Rechte“. Immer wieder habe sie auch von Frauen gehört, die man mit einem Strick um den Hals tot aufgefunden habe und deren Tod trotz ungeklärter Umstände zum Selbstmord erklärt worden sei. Hayat Nuredin ist froh, dass sie es überhaupt geschafft hat, wieder heil nach Äthiopien zu gelangen.
Angelockt hatte sie damals eine Nachbarin. Hayat Nuredin glaubt heute, dass die Frau damals eine Kommission für ihre Dienste bekam. „Immer wieder schwärmte sie von der guten Arbeit und dem vielen Geld, das man in Dubai verdienen kann“. Während das Gehalt einer ungelernten Haushaltshilfe in Addis Abeba rund 60 Euro beträgt, sollte sie in Dubai das Achtfache bekommen. Viel Geld; es würde für sie selbst reichen, und sie könnte ausserdem den Verwundeten in Afrika jeden Monat etwas schicken. Die vermeintliche Freundin kümmerte sich um die Einladung in die Hauptstadt der Vereinten Arabischen Emirate und die nötigen Visa. Das Flugticket bezahlte die Familie, bei der sie arbeiten sollte. Die Abmachung: die ersten fünf Monate würde die Hayat Nuredin umsonst arbeiten, um das Geld für Visum und Flug abzustottern, danach jeden Monat ein Gehalt bekommen.
Am Flughafen empfing sie der Herr des Hauses, ein wohlhabenden Polizist. Schon da wurde sie misstrauisch. „Kaum war ich im Land, nahm der Mann mir den Reisepass ab.“ In der Villa der Familie angekommen, wurde der neuen Hilfskraft eine kleine fensterlose Kammer zugeteilt, die sie nur verlassen durfte, um zu arbeiten.
In Zukunft würden zwei Erwachsene und sechs Kinder die Äthiopierin herumkommandieren. „Offiziell dauerte mein Arbeitstag von ungefähr fünf Uhr morgens bis Mitternacht, dennoch musste ich rund um die Uhr zur Verfügung stehen.“ Ihre Aufgaben: waschen, bügeln, das riesige Haus putzen und die Familie bedienen. Um das Kochen kümmerte sich eine Indonesierin; eine Inderin war für Kinder und Enkelkinder zuständig; als Fahrer arbeitete ein Pakistani. Doch unter den Angestellten war jeglicher Kontakt strikt verboten. „Die Araber achten streng darauf, dass nicht zwei Äthiopier in einem Haushalt arbeiten, damit sie sich nicht zur Flucht verbünden können“. Zum Fahrer bestand nur Kontakt, wenn der abkommandiert worden war, um Hayat Nuredin beim Entsorgen des Mülls zu begleiten. Ihr war es nämlich verboten, alleine das Haus zu verlassen. Selbst der Blick aus einem Fenster auf die Strasse war unmöglich; nicht erlaubt war auch der Besitz eines Mobiltelefons.
Der Hausherr sei relativ freundlich gewesen, erinnert sich Hayat Nuredin, seine Frau eher tyrannisch. Unerträglich aber wurden irgendwann die Nachstellungen des 21-jährigen Sohns des Hauses. Ständig habe er sie bedrängt, sie begrapscht, er habe versucht, sie zu vergewaltigen und gerufen: “Komm her, du äthiopische Hure!“ Als die Hausherrin abgelenkt war und eine Schublade offen stand, entdeckte Hayat Nuredin ihren Pass. Sie versteckte ihn unter ihrer Burka, dann machte sie sich mit dem pakistanischen Fahrer auf den Weg zur Mülldeponie. Dort angekommen, versteckte sie sich solange in einem stinkenden Müllsack, bis er Fahrer das Warten aufgab. Dann rannte sie los und stoppte ein Auto.
„Es war mein Glück, dass ein indischer Taxifahrer anhielt und mich mitnahm. Der Mann hatte Mitgefühl und brachte mich zu einer Eritreerin, die er kannte.“ Wäre sie einem Araber in die Arme gelaufen, meinte sie, wäre sie im Gefängnis gelandet und womöglich ausgepeitscht worden: „Wir Afrikaner werden dort wie Tiere behandelt; wir sind vollkommen rechtlos.“ Stattdessen versteckte die Frau aus Eritrea Hayat Nuredin; und das obwohl diese kein Geld hatte und sich nun auch noch illegal im Land befand – denn in ihrem Reisepass war der Name des nun um eine Sklavin gebrachten Arbeitgebers vermerkt.
Hayat Nuredin ist glücklich, eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin machen zu können.
Sechs Wochen lang verliess sie das Haus nicht, dann wagte sie sich gemeinsam mit einer anderen Äthiopierin auf die Strasse. Doch weit kamen die beiden nicht, dann wurden sie von einem Syrer und seiner Frau entdeckt. Die beiden boten Hayat Nuredin eine Arbeitsstelle bei sich in einer Dreizimmer-Hochhauswohnung an. Sie sollte die Tochter des Paars betreuen, und sie wurde von der Familie auch bezahlt: rund 230 Euro im Monat. Zwar war der Transfer von Geld ins Ausland verboten, dennoch gelang es ihr, über einen Mittelsmann heimlich etwas nach Haus zu schicken. Nach zweieinhalb Jahren benötigte die Kleinfamilie ihre Dienste nicht mehr und setzte sie vor die Tür.
Immerhin hatte Hayat Nuredin nun etwas Geld, und so fand sie eine neue Bleibe in einer Siedlung von Illegalen in einem Slum von Dubai. Hier tummelten sich Gestrandete aus aller Herren Länder: Filipinas und Nigerianer, Pakistanis und Inder, Kenianerinnen und Äthiopier. Gemeinsam mit anderen Äthiopiern liess sich Hayat Nuredin Visitenkarten drucken und bot als Tagelöhnerin ihre Arbeitskraft an. Doch die Arbeit wurde schlecht bezahlt, und manchmal wurde sie auch gar nicht bezahlt, weil die Araber das Schicksal der Illegalen ausnutzten und nach verrichteter Tätigkeit damit drohten, die Polizei zu rufen. Nach weiteren zwei Jahren hatte Hayat Nuredin auch genug von der ständigen Flucht vor den Behörden. „Immer wieder fanden Razzien statt.“ Irgendwann hatte sie genug Geld zusammengespart, um wieder zurück nach Addis Abeba zu fliegen.
In Äthiopien schlägt sie sich seitdem mit Gelegenheitsjobs durch. Damit kommt sie gerade so über die Runden. Dann berichtete eine Freundin von dem Kurs in Merkato. Er wird von einer äthiopischen Hilfsorganisation organisiert; bezahlen tut ihn die Schweizer Sektion der Karl-Heinz-Böhm-Stiftung „Menschen für Menschen Schweiz“. Der Kurs soll eine Investition in die Zukunft sein. Sechs Monate lang hat Hayat Nuredin nun kein richtiges Einkommen. Nur nachmittags, wenn der Unterricht vorbei ist, kann sie etwas dazuverdienen. Am Ende des halbjährigen Trainings bekommt jede Teilnehmerin ein Zertifikat. Es dann das erste Mal, dass Hayat Nuredin ein Dokument über eine Ausbildung hat. „Vielleicht beginnt damit ja ein neues Leben. Zumindest habe ich eine Chance.“
Dieser Artikel wurde am Sonntag, 08.07.2018 in der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ publiziert.
Autor: Thilo Thielke