«Unabhängig und frei»
Hanna musste sich prostituieren. Alem war verzweifelt, weil sie Zwillinge bekommen hatte. Yeshi sah keinen anderen Weg, als ihr Kind in der Heimat zurückzulassen. Alle drei Frauen waren von den Vätern ihrer Kinder im Stich gelassen worden. «Wer den Kindern helfen will, muss auch den Müttern helfen», sagt Sozialarbeiterin Martha: auf Hausbesuch in der Stadt Debre Berhan, im Kinderprojekt von Menschen für Menschen.
NENNEN WIR SIE HANNA BERHANE. Eigentlich heisst sie anders, aber ihren richtigen Namen will sie nicht veröffentlicht sehen. Bis vor drei Jahren musste sich Hanna prostituieren. «Nur so konnte ich meine Töchter ernähren», sagt die 36-Jährige. Abends ging sie in eine Bar, wartete auf Kunden, ging mit ihnen ins Hinterzimmer, verdiente umgerechnet zwei Franken, bevor sie nach Hause zu den beiden Töchtern eilte.
Es war nicht leicht, der 15-jährigen Tochter Maria neulich das Geheimnis zu beichten. «Aber ich musste es tun», sagt Hanna. «Besser sie erfährt es von mir als von anderen.» Hanna sieht, dass die Nachbarinnen tuscheln. Im Viertel wissen sie, was ihr früherer Erwerb war. «Maria war geschockt», sagt Hanna. «Aber dann schrieb sie ein Gedicht für mich.» Ihre Augen schimmern feucht. Die Tochter schrieb: «Mama, du bist ein grosser Mensch. Du hast dich für uns geopfert.»
Den Vater der jüngeren Tochter Ayantu hatte Hanna vor sieben Jahren als Kunden kennengelernt. «Hör auf mit dieser Arbeit», sagte er. «Ich werde immer für dich sorgen.» Sie glaubte ihm, zog mit ihm zusammen. Sie wollte kein Kind mehr, aber er drängte sie. Also wurde sie schwanger. Der Mann handelte mit Viehfutter. Er verkalkulierte sich, ging bankrott. «Er ertrug Armut und Ohnmacht nicht», berichtet Hanna. «Schliesslich verliess er mich.»
Also musste sie abends wieder in die Bar. Sie war als Teenager vom Land nach Debre Berhan gekommen, um als Hausmädchen zu arbeiten: Sie hatte kein Netzwerk an Verwandten in der grossen Stadt, keine Ausbildung, keine Mittel – und auch keine Hoffnung mehr. Dass sich dies vor drei Jahren änderte, lag an einer Frau: Martha Eshetu arbeitet als Sozialarbeiterin im Kinderprojekt von Menschen für Menschen (siehe Info-Kasten unten). «Martha besuchte mich immer wieder», erinnert sich Hanna. «Ich brauchte jemand an meiner Seite. Der an mich glaubte.»
Es riecht nach frischem Brot, Hanna hat in ihrem Heim, das aus einem einzigen Zimmer besteht, extra für den Besuch aus der Schweiz gebacken, sie brüht im Tontopf Kaffee auf. «Dass es uns jetzt gut geht, liegt an Martha», sagt sie. Die Sozialarbeiterin sorgte dafür, dass Hanna in eine Selbsthilfegruppe besonders armer Frauen kam. Dort stützen sich die Frauen gegenseitig, sie lernen auch die Grundlagen, wie man ein kleines Geschäft führt. Hanna ist geschickt. Mit einem Mikrokredit von Menschen für Menschen begann sie einen Handel mit Peperoncini, vergrösserte das Geschäft immer mehr. «Jetzt kann ich gut davon leben und die Töchter versorgen.» Die Bar und das Hinterzimmer sind Vergangenheit.
Aber eine Sache ist noch quälend. Hanna ist manchmal schroff gegenüber ihrer grossen Tochter Maria. Vor allem, wenn sie zu spät nach Hause kommt. Neulich sagte die 15-Jährige: «Ich halte deine Wut nicht mehr aus. Ich haue ab!» Darauf bat Hanna Martha um Rat. Die Sozialarbeiterin sprach mit Mutter und Tochter – und verstand. Sie erklärte der Tochter: «Deine Mutter hat Angst um dich. Sie war wenig älter als du, als sie wegen ihrer frühen Mutterschaft in die Prostitution rutschte. Sie will dich davor schützen.» Sie erklärte der Mutter: «Hab Vertrauen zu deiner Tochter, sie ist ein kluges Mädchen.»
Hanna schenkt Kaffee ein, in einer kleinen Tasse, voll bis an den Rand, wie es Sitte ist in Äthiopien. «Ich bin jetzt unabhängig», sagt sie. «Aber Martha ist weiter wichtig. Ich sehe sie als Freundin. Sie hilft mir so viel!» Das Verhältnis der beiden Frauen wirft ein Schlaglicht auf die Hilfe, die Menschen für Menschen in seinem Kinderprojekt für die 1200 ärmsten Kinder der Stadt leistet: Es gibt in Debre Berhan sechs Sozialarbeiterinnen im Kinderprojekt, jede betreut 70 bis 80 Familien. Sie gehen von Haus zu Haus. Sie geben den Kindern Tipps, wie sie ihre Hausaufgaben machen und den meist alleinerziehenden Müttern, wie sie ihre Kinder erziehen sollten. Es geht um die Vermittlung praktischer Kenntnisse. Aber mindestens genauso geht es darum, für die Kinder und Frauen, die sonst von niemandem Hilfe erwarten können und deren Selbstvertrauen am Boden ist, seelische Stütze zu sein.
Martha verabschiedet sich. Hanna umarmt sie herzlich. Weiter geht's zum nächsten Haus.
AUCH IN DIESER FAMILIE LIESS EIN MANN EINE FRAU IM STICH: Als der Freund von Alem Zewudu erfuhr, dass sie schwanger war, sagte er: «Treib es ab!» Dann legte er ein paar Geldscheine, umgerechnet 10 Franken, auf den Tisch und verschwand. Für immer.
Alem bekam Zwillinge, ein Mädchen und einen Jungen. «Es war ein Schock», berichtet die 34-Jährige: «Ich haderte mit Gott. Wie sollte ich zwei Babys durchbringen?» Bei der Erinnerung daran schiessen Tränen in ihre Augen. Tigist, ihre zehnjährige Tochter, umarmt sie, versucht sie zu trösten.
Alem überlebte die erste Zeit mit Hilfe von barmherzigen Nachbarn. Dann liess sie die Zwillinge bei Tochter Tigist zurück, um eine schwere Arbeit als Tagelöhnerin zu verrichten. Alem wusch Wäsche von Hand, röstete Kichererbsen über offenen Feuern. «Als ich Alem kennenlernte, war sie nur darauf fokussiert, ihre Miete zahlen zu können und ihre Kinder zu versorgen», erinnert sich Sozialarbeiterin Martha. «Darüber vergass sie sich selbst völlig.» Alem hatte einen schlimmen Ausschlag im Gesicht, möglicherweise war sie gegen das Waschmittel allergisch oder den Rauch des Feuers. «Sie war abgemagert», berichtet Martha. «Ich sagte ihr: Deine Kinder brauchen dich. Du musst mehr essen.»
Martha sorgte dafür, dass Alem eine ganze Reihe der Hilfen bekam, die das Kinderprojekt bietet: Die unterernährten Kinder erhielten Lebensmittel, die älteste Tochter Schulsachen, demnächst wird die Familie in eine einfache Sozialwohnung ziehen, gebaut von Menschen für Menschen. Alem bekam auch Schulungen und Mikrokredite, mit denen sie einen erfolgreichen Gemüsehandel startete. Es gibt nur zwei Markttage in der Woche, jetzt hat Alem mehr Zeit für ihre Zwillinge. Tigist, die Zehnjährige, kann endlich befreit zur Schule gehen. «Sie ist ein sehr verspieltes Mädchen», beobachtet Martha. Es sei, als ob sie ihre Kindheit nachholen wolle. «Ich rede oft mit ihr», betont Martha. «Ich mache ihr klar, dass neben dem Spielen auch die Schule wichtig ist.» Ohne Bildung keine Entwicklung: Die Schule ist der einzige Weg, der für ein Kind aus der Armut herausführt.
«Mir geht es jetzt gut», betont Alem. «Am besten, das Projekt hilft statt mir jetzt weiteren Frauen, die heute in so einer furchtbaren Lage sind wie ich es früher war.» Aber Fachfrau Martha findet nicht, dass die Mutter schon weit genug ist. «Die Zwillinge sind fünf Jahre alt, aber sie sehen aus wie Dreijährige. Weil sie lange nicht genug und nicht gut gegessen haben.»
Auch Schulungen in gesunder Ernährung gehören zum Angebot von Menschen für Menschen: «Wir vermitteln den Müttern, dass sie Hülsenfrüchte und Gemüse kaufen sollen, auch wenn diese Lebensmittel teurer sind als Mehl.»
Aber natürlich ist das für alle das Ziel: Dass sie selbständig und ohne weitere Hilfe von Martha leben können. Tatsächlich werden zwei Drittel der Familien nach drei Jahren in die Unabhängigkeit entlassen (siehe Info-Kasten unten). Auch Yeshi Haliabe hat es weit gebracht, mit ihrem Kiosk an einer gepflasterten Strasse. Der Besuch bei der 34-Jährigen ist Marthas dritte Station an diesem Tag.
Die stolze Kioskbesitzerin Yeshi
VOR DREI JAHREN WAR YESHI NOCH TAGELÖHNERIN und so verzweifelt, dass sie eine Freundin fragte, ob diese ihre damals fünfjährige Tochter Gruminesh aufnehmen könnte – sie selbst wollte nach Saudi-Arabien gehen, um dort als Hausmädchen zu schuften und Geld nach Hause zu schicken: Abertausende Kinder in Äthiopien wachsen wegen solcher Armutsmigration elternlos auf.
Yeshi hatte schon ihren neuen Pass in der Hand, als die Sozialarbeiterin von Menschen für Menschen sie kontaktierte: «Es gibt eine Möglichkeit, dass du in der Heimat und bei deiner Tochter bleiben kannst, nämlich unser Kinderprojekt.» Yeshi nahm die gewerblichen Schulungen wahr, mit ihrem ersten Mikrokredit stieg sie in den Strassenhandel mit Zwiebeln und Ingwer ein. Es lief gut, sie erweiterte mit Holzkohle, Eiern und Butter.
Und dann, vor acht Monaten, schaffte sie einen Durchbruch: Yeshi hatte ihren Kredit zurückgezahlt und erhielt in ihrer Selbsthilfegruppe die Chance auf einen neuen, grösseren Kredit – und konnte so den kleinen Laden eröffnen. Dort verkauft sie jetzt Seife, Limonaden, Zucker, Süssigkeiten, Kämme, Erdnüsse, Gewürze in kleinen Briefen, Menstruationsbinden in Einzelpackungen, Kaffee in Tütchen gebunden, klein wie eine Kinderfaust, denn die meisten Kunden können sich nur kleine Mengen leisten.
Die Ladentheke musste Yeshi mit Draht vergittern, sie gibt die Ware durch ein kleines Fenster heraus. So klein der Wert der wenigen Waren ist: Für arme Diebe in Debre Berhan sind sie eine lohnende Beute. Einmal hörte Yeshi nachts, wie jemand den Laden aufzubrechen versuchte. Gut, dass sie und ihre Tochter im Zimmer gleich hinter dem Laden schlafen, meint Yeshi: «Ich machte Lärm! So kann ich jeden Dieb vertreiben!»
Das Leben von Mutter und Tochter spielt sich auf einer winzigen Fläche ab: Der Laden misst zwei Quadratmeter, die Wohnfläche dahinter nur etwa sechs. Aber es sei ihr Platz, ihr Daheim, niemand mache ihr das mehr streitig: «Ich bin happy! Ich wache morgens auf und freue mich auf meine Arbeit. Ich habe Freunde und kann für uns selbst sorgen», sagt Yeshi. «Ich fühle mich frei.»
«Ich bin sehr glücklich, weil ich so vielen Frauen und Kindern helfen kann», sagt Sozialarbeiterin Martha. Sie hat eine Ausbildung als Krankenschwester. Ein Freund, der nach Südafrika ausgewandert sei, habe Geld geschickt, damit sie die Ausbildung machen und sich aus ihrer eigenen Armut herausarbeiten konnte. Sie könnte also auch im Gesundheitssektor arbeiten. «Aber ich will im Kinderprojekt von Menschen für Menschen bleiben.» Sie hat einen sehr guten Draht zu den Müttern. «Sicherlich, weil ich aus ähnlichen Verhältnissen komme.» Ausserdem sei ihre älteste Töchter mit 17 Jahren an Epilepsie gestorben: «Ich weiss, wie sich schwere Schicksalsschläge anfühlen. Die Mütter sehen: Hier ist eine, die uns versteht.»
Von den 77 Familien, die Martha betreut, waren bereits die Hälfte nach zwei Jahren bereit für die Unabhängigkeit – sie kommen jetzt selbst klar. «Manche schaffen es nicht allein, auch wegen körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen», sagt Martha. «Aber ich bin zuversichtlich, dass weitere zwölf Familien in den kommenden Monaten so weit kommen, dass sie mich nicht mehr brauchen.»
Die Arbeit wird Martha nicht ausgehen: Debre Berhan wächst, auch durch den Zuzug weiterer alleinerziehender Mütter mit ihren Kindern, die aus der Not ihrer Dörfer fliehen. Deshalb hat Menschen für Menschen entschieden, ab 2025 für weitere drei Jahre in der Stadt zu bleiben. «Wer den Kindern helfen will, muss auch den Müttern helfen», sagt Martha. «Es gibt noch so viele, die uns brauchen!»
WARUM WIR HELFEN
Viele alleinerziehende Mütter und ihre Kinder in der Stadt Debre Berhan sind extrem arm. Es gibt kein Geld für Schulbedarf, in den engen Unterkünften herrscht Nahrungsmangel. Viele Mütter sind mutlos, am Ende ihrer Kraft. Die Verweiflung darf nicht auf die Kinder übergehen. Wir fördern 1200 besonders bedürftige Kinder. Unser Konzept ist die «Hilfe zur Selbstentwicklung». Die Mütter sollen auf eigenen Beinen stehen.
WAS WIR WOLLEN
Einige unserer Aktivitäten:
- Die Kinder bekommen Schuluniformen, Stifte und Hefte – jedes Kind hat ein Recht auf Schule!
- Die Wohnsituation ist häufig nicht menschenwürdig. Wir bauen Sozialwohnungen in traditioneller Lehmbauweise.
- Wir schulen die Mütter in Selbsthilfegruppen. Sie bekommen Mikrokredite über 80 bis 200 Franken.
- Unsere Mitarbeiterinnen sind vielfältige Stütze im Alltag. Sie beraten die Frauen fachlich bei der Gründung eines Kleingewerbes. Auch für die Kinder sind sie Vertrauensperson bei allen Nöten.
WAS WIR ERREICHEN
Seit dem Jahr 2022 haben wir 663 Familien unterstützt. Nach drei Jahren können wir nun 445 Familien in die Unabhängigkeit entlassen: Dank unserer Starthilfen können sie es jetzt allein schaffen. Den verbliebenen 218 Familien helfen wir weiter, zusammen mit einigen hundert Familien, die wir neu ins Projekt aufnehmen: Auch im Jahr 2025 schaffen wir für 1200 besonders arme Kinder Lebensperspektiven.