Recherche bei «Menschen für Menschen»
Im Juni 2023 reisten der Mediensprecher Michael Kesselring und der Journalist Bernd Hauser nach Äthiopien. Die beiden recherchierten die Reportagen für die kommenden Ausgaben des Nagaya-Magazins und die Beiträge für unsere Website. Die Recherche führte sie vom Kinderprojekt in der Stadt Debre Berhan über das Landwirtschaftsprojekt in Fogera zu den Hilfen für Familien in den Slums der Hauptstadt Addis Abeba. Auf Social Media teilten sie einige ihrer Begegnungen: Hier ein Überblick über ihre ersten Eindrücke.
Erste Impressionen vor Ort
Der Nachtflug kam gegen 7 Uhr morgens in Addis Abeba an, doch in der äthiopischen Hauptstadt herrschte bereits emsiges Treiben. Kinder, die zur Schule laufen, Herren in Anzügen auf dem Weg zum ersten Meeting und bitterarme Menschen in zerschlissener Kleidung auf der Suche nach etwas zu essen: Sie teilen sich die morgendlichen Strassen. Was das Stadtbild aber am meisten prägt, sind die überall präsenten Baustellen; ob Wohn- oder Geschäftshäuser oder ganze Quartiere, die Stadt scheint sich ständig zu erneuern und vor allem – zu wachsen. So dauert es lange, bis man die nordöstlichen Aussenbezirke erreicht hat. Dann sieht man auf weiten Hochebenen die traditionellen Tukuls, Hirtenjungen mit ihren Kuh- und Ziegenherden, und immer wieder grosse chinesische Fabriken, die Textilien, Dünger oder Medikamente produzieren. Genau wie die Aussenbezirke von Addis Abeba wachsen auch die Vororte von Debre Berhan immer weiter ins Land hinein. In dieser Grossstadt betreibt Menschen für Menschen ein Projekt für die 1200 ärmsten Kinder.
«Wir sind eine reiche Familie»
Sinidu, 13, steht um 6 Uhr auf, hilft beim Melken der Kühe. Danach bereitet sie das Frühstück für sich und die Geschwister vor. Nicht immer kann sie deshalb eine Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Schule sein, wie sie gerne möchte: nämlich, um noch an eines der Unterrichtsbücher zu kommen, von denen es zu wenige gibt. Dank des MfM-Kinderprojekts in Debre Berhan erhielt die Familie einen Mikrokredit und konnte sich aus der schlimmsten Armut befreien. Mit drei Milchkühen haben sie sich ein vergleichsweise gutes Einkommen gesichert. Dies bedeutet zwar viel Arbeit für die ganze Familie – auch für Sinidu – aber sie sagt, sie sei ein glückliches Mädchen. Wenn sie etwas Geld übrig hat, gibt sie es oft genug Leuten, denen es schlechter geht, berichtet ihre Mutter. Als Kleinkind erlebte Sinidu Mangel und Hunger. Jetzt sagt sie: «Wir sind eine reiche Familie.» Warum? «Weil wir gesund und froh sind.»
Lernen ohne Knurren im Bauch
Surafel erinnert sich, wie er sich für seine Schuluniform schämte. Sie reichte ihm nur bis unters Knie. «Meine Mutter hatte die Nachbarin gefragt, ob ich die alte Uniform von ihrem Sohn haben dürfte.» Und schlimm war es, mit knurrendem Magen Hausaufgaben zu machen. «Wenn wir früher Mittagessen bekamen, gab es kein Abendessen», erzählt Surafel. «Oder wir assen zu Mittag, aber bekamen abends nichts zu essen.» Zum Glück ist das jetzt vorbei für ihn und seine Schwestern, die siebenjährigen Zwillinge Blen und Tigist. Das Kinderprojekt von Menschen für Menschen versorgte die Familie mit Lebensmitteln und Schulbedarf und die Mutter bekam eine Starthilfe für ihr Kleingewerbe. Sie bäckt und verkauft jetzt Injerra, das tägliche Brot Äthiopiens. «Jetzt brauchen wir uns um das Essen keine Sorgen mehr zu machen», sagt Surafel. «Voller Bauch studiert nicht gern», lautet ein Sprichwort. Surafel weiss, dass das nicht stimmt: Viel schlimmer ist ein leerer Magen. Stolz zeigt er den Besuchern aus der Schweiz eine Siegerurkunde. Bei einem landesweiten Mathe-Wettbewerb war er einer der Schulbesten.
Rauchzeichen für eine bessere Zukunft
Noch vor zwei Jahren sammelte Nestanet Wolde Plastikflaschen. Heute verkauft sie am eigenen Marktstand Räucherwerk. „Ich habe über tausend Kunden“, sagt die 24-Jährige. „Sie kommen immer wieder.“ Bestimmt auch, weil sie immer eine Prise drauflegt, ohne extra Kosten, sagt sie lächelnd. Jedenfalls könne sie jetzt ihrer Tochter Hiyab, 5, eine gute Zukunft bieten. Das Startkapital über rund 250 Franken bekam die erfolgreiche Kleinunternehmerin aus einem MfM-Fördertopf für junge Gründerinnen und Gründer.
Weitere Erfolgsgeschichten von Frauen, die sich dank eines Mikrokredits ein eigenes Kleinunternehmen aufbauen konnten, finden Sie hier:
Mörderische Kochfeuer
Die zweite Etappe der Recherchereise führte in den Bezirk Fogera am Tanasee. Von der Stadt Bahir Dar erreicht man das Projektgebiet in eineinhalb Stunden mit dem Auto. Wie überall in Äthiopien kochen die Menschen dort mit Biomasse – dürre Zweige, getrockneter Dung. Der Rauch der offenen Feuer ist mörderisch und belastet die Gesundheit gerade von Kindern und Frauen. Michael Kesselring gab live aus dem Projektgebiet ein Radio-Interview zu den «Green Stoves» – raucharme und Brennholz sparende Öfen von Menschen für Menschen. Das frisch gebackene Fladenbrot schmeckte ausgezeichnet.
«Agents of Change» in Fogera
Endashaw Alemu, 29, ist «Community Development Worker» in der Gemeinde Alember. Junge Leute wie Endashaw sind die «Agents of Change». Die einheimischen Fachleute wohnen vor Ort, sind jeden Tag bei den Bauern. Endashaw betreut rund 1000 Familien, er berät sie, wie eng Getreide gepflanzt wird, wie Schafe gesund bleiben und wie man den besten natürlichen Kompost erhält, um teuren Kunstdünger zu sparen. Zu den Höfen führen oft keine Strassen, Endashaw ist zu Fuss unterwegs, oft 15 Kilometer täglich, und auf jedem Hof ist er ein gern gesehener Gast.
Die Kehrseite der Hauptstadt
Zurück in Addis Abeba: Hier gibt es glitzernde Wolkenkratzer, teure Restaurants und aufwändig gestaltete Parks. Aber ein paar Meter von den Hauptverkehrsstrassen entfernt leben Menschen in extremer Armut. Rahel Tekle ist die Mutter zweier kleiner Kinder. Mit ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrer Nichte, ihrer Schwester und deren beiden Kindern teilt sie sich ein Zimmer. Alle schlafen gemeinsam in einem unter die Decke gezimmerten Matratzenlager. Rahel hat vor zwei Wochen unsere Berufsausbildung begonnen. Nach ihrem Abschluss als Hauswirtschafterin hofft sie, ihre Lage verbessern zu können.
Die Nacht im Slum
Ein Träger bringt Schaumstoff ins Merkato-Viertel. In den dortigen Slums hat kaum jemand ein richtiges Bett. Die Einwohner schlafen auf billigsten Unterlagen in winzigen Lehmhäusern. In manchen Herbergen mieten sie einen Schlafplatz für 70 Rappen die Nacht und liegen Körper an Körper mit einem Dutzend fremder Menschen.
Bunte Pillen – auch für arme Menschen
Alemayehu Tadesse hatte einen Schlaganfall. Er leidet an hohem Blutdruck. Zwar hat er als besonders armer Mensch Anspruch auf eine staatliche Krankenversicherung. Doch den Beitrag von umgerechnet zehn Franken jährlich könne er kaum aufbringen. Menschen für Menschen übernimmt für 300 Slum-Bewohner die Beiträge. „Ohne die Versicherung wäre ich nicht mehr auf dieser Welt!“, sagt der 68-Jährige. Durch den Schlaganfall hat er Lähmungserscheinungen. Seinen Humor hat er nicht verloren. «Ich bekomme jetzt viele Tabletten in ganz verschiedenen Farben», sagt er. «Ich hoffe, dass mir kein Strauss mit bunten Blumen aus dem Mund wächst, wenn ich so viele farbige Pillen nehme!»
Zukunftsträume im Kinderheim
Berkume Biya, 15, und Haluyesus Gobena, 16, wachsen im Kinderheim von Menschen für Menschen auf. In ihrer Freizeit spielen sie Fussball in einer Schulmannschaft. Demnächst ist ein wichtiges Turnier, bei dem Talentscouts erwartet werden. Die Teenager hoffen, entdeckt zu werden und in einem der guten Clubs in Addis spielen zu dürfen. Beide träumen von einer Profikarriere. «Wenn ich spiele, bin ich einfach glücklich», sagt Berkume.
Das Leben ist schön
Auf der knapp zweiwöchigen Reise öffneten unsere einheimischen Kolleginnen und Kollegen die Türen und in oft stundenlangen Gesprächen auch die Herzen der Menschen. Ihre Geschichten sind so vielfältig wie Äthiopien: Der wissbegierige Junge, der nun endlich die Schule besuchen kann. Die Bauernfamilie, die eine kleine Schafzucht aufgebaut hat. Oder die Rückkehrerin aus Bahrain, die dort als Hausmädchen missbraucht wurde, aber dank unserem Berufsbildungsprogramm jetzt die Aussicht auf ein besseres Leben in Äthiopien hat. Sie berichteten von Not und Rückschlägen – aber auch von neu gefundener Hoffnung.
Ihre Geschichten werden wir in den kommenden Monaten in unserer Spenderpublikation, dem Nagaya-Magazin, auf unserer Website und in Social-Media-Kanälen ausführlich erzählen.
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