Erfolg dank Mikrokredit
Man braucht sich nur zwei Zahlen anzuschauen, um zu verstehen, was für ein gewaltiger Unterschied es macht, ob eine Frau in Äthiopien als Tagelöhnerin arbeitet oder als kleine Selbständige – zum Beispiel als Hühnerhalterin und Eierverkäuferin, so wie Wude Negussie. «Es ist ein Unterschied wie Himmel und Erde», sagt die 38-Jährige.
Die Zahl Nummer eins: 50 Rappen. Früher stand Wude Negussie von morgens bis abends an einem offenen Feuer, darüber eine wagenradgrosse Pfanne. Darin röstete sie Kichererbsen, die gemahlen werden und die Grundlage für den würzigen Brei namens Shiro sind, ein Grundnahrungsmittel in Äthiopien. Für einen Tag im Rauch und der Hitze des Feuers erhielt Wude Negussie einen halben Franken. «Die Arbeit war furchtbar hart», erinnert sich die Mutter von vier Kindern. «Wir Frauen mussten im Akkord arbeiten, für das Rösten von 50 Kilogramm Kichererbsen erhielten wir 3 Birr.» Das sind knapp zehn Rappen.
Die Zahl Nummer zwei: 13 Rappen. So viel kostet in Debre Berhan, der Stadt von Wude Negussie, ein Hühnerei auf dem Markt. Das bedeutet: Eine Tagelöhnerin kann sich vom Verdienst für einen ganzen Tag harter Arbeit vier Eier kaufen – mehr nicht. Es bedeutet aber auch: Wer Hühner hat, kann mit dem Verkauf der Eier viel mehr Geld verdienen als mit schwerer körperlicher Arbeit.
Früher hatte Wude Negussie kein Geld, um Hennen zu erwerben – es reichte ja nicht einmal fürs Essen für sie und ihre Kinder. «Ich erinnere mich, wie meine erstgeborene Tochter zu Hause blieb, weil ich ihr in die Schule kein Mittagessen mitgeben konnte», sagt die Mutter von vier Kindern und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. «Das hat sehr weh getan.»
Wude brauchte Startkapital – und dieses bekam sie in einer Selbsthilfegruppe von Menschen für Menschen. Dort werden besonders arme Mütter in kaufmännischen Grundlagen unterrichtet. Dann sparen die Frauen kleine Beträge an, um zu zeigen, dass sie sich wirklich aus ihrer Lage herausarbeiten wollen. Ein paar Monate lang legte Wude Negussie pro Woche umgerechnet 35 Rappen zurück, dann bekam sie ihren ersten Mikrokredit. Menschen für Menschen stattet die Frauengruppen mit Kapital für diese Kredite aus, in der Regel nehmen die Frauen zwischen 60 und 90 Franken auf. Aber die anderen Mütter in der Selbsthilfegruppe trauten Wude Negussie zu, dass sie auch einen Kredit über 300 Franken zurückzahlen würde. Die Gruppe gestand ihr die Summe zu, Wude Negussie kaufte Schafe, mästete sie, verkaufte sie mit Gewinn wieder und zahlte den Kredit zurück. Nun traute sie sich an das verhältnismässig ganz grosse Geschäft: Die Mitglieder willigten ein, dass sie in der nächsten Runde 600 Franken aufnehmen konnte.
Damit kaufte sie 200 Junghennen, Futter, Maschendraht und Holz für einen Zaun und ein Hühnerhaus. Ihr Mann, ein Tagelöhner wie Wude, schläft jetzt jede Nacht in einem Verschlag bei den Hühnern, damit keine zwei- oder vierbeinigen Diebe zuschlagen können. Besonders zu kämpfen hat die Familie mit einem Serval. Die Wildkatze schafft es immer wieder, ein Huhn zu stibitzen. Am Markt hat die Geschäftsfrau rund 70 Hühner verkauft – gerade an Ostern, wenn die Äthiopier den Festschmaus «Doro Wot» essen, also Hühnchen in einer feurigen Chilisosse, erzielt das Geflügel gute Preise.
Durch den Verkauf des Geflügels und der Eier der verbliebenen rund 100 Hühner kann die Kleinunternehmerin ihren Kredit ohne grosse Mühe tilgen. «Nach Abzug aller Kosten bleibt mir nun ein Monatseinkommen von 2000 Birr», sagt Wude Negussie. Das sind rund 60 Franken, was in etwa dem Einkommen eines Grundschullehrers entspricht.
Die Eierfrau plant, ihren Bestand wieder mit Junghühnern aufzustocken und die Zucht von Ziegen und Schafen, die sie mit dem Eier-Geld gekauft hat, zu erweitern. «Es ist eine leichte Arbeit und ich bin gesund – nicht mehr wie früher, als ich den ganzen Tag im Rauch des Feuers stand und immer schwer hustete. Und ein wesentlicher Unterschied ist auch: Nun arbeite ich für mich selbst.» Die Kinder würden sich gut entwickeln und fleissig die Schule besuchen, freut sich Wude Negussie. «Jetzt haben wir ein gutes Leben.»