Kanaan, 12, musste im Alter von zehn Jahren die Schule abbrechen, um als Abräumerin zu arbeiten. Dank der Spender von Menschen für Menschen kann das Mädchen nun wieder spielen und lernen.
«Wenn das Mädchen müde war abends, kam es in kein Bett, sondern musste sich neben dem Herd in die Asche legen. Und weil es da immer in Asche und Staub herumwühlte und schmutzig aussah, gaben sie ihm den Namen Aschenputtel.» Vor über 200 Jahren schrieben die Gebrüder Grimm diese Sätze nieder. Die zwölfjährige Kanaan Degife hat nie vom Aschenputtel gehört, aber die Situation kennt sie genau: Jahrelang schlief das Mädchen mit seinen beiden Geschwistern und der Mutter auf dem Boden einer Küchenhütte.
«Durch die Ritzen der Wände drang Sonnenlicht und der Wind. Er blies die Asche hoch, sie brannte in den Augen», erinnert sich Kanaan. «Die Grossmutter schimpfte immer mit meiner Mutter. Sie war nicht gut zu uns.»
Weil es in den Wohnungen der Slums in der äthiopischen Grossstadt Debre Berhan so wenig Platz gibt und der Rauch der Feuerstellen die Atemwege reizt, versuchen die Menschen ihre Küchen auszulagern. Das Essen wird häufig vor den Wohnungen zubereitet, in Verschlägen, die aus Stangenholz zusammengenagelt und mit Gras oder rostigem Blech gedeckt sind.
In so einem Küchenverschlag lebte Kanaans Mutter Serkalum Hailu, 32, mit ihren drei kleinen Kindern: «Mein Lebensgefährte hatte uns verlassen. Ich konnte die Monatsmiete von 400 Birr (14 Franken) nicht bezahlen. Der Vermieter warf uns aus der Wohnung. Ich flehte meine Mutter an, sie liess uns schliesslich in der Küchenhütte wohnen.»
Doch Kanaans Grossmutter ist eine verbitterte Frau. «Es hat mit meinem Bruder Metuku zu tun», erklärt Serkalum. «Er war 23 und arbeitete als Fahrer einer Motorrikscha.» Die Polizei habe ihn mit Strafzetteln schikaniert. «Er war sehr empört und zornig.» Eines Tages trank er Batteriesäure. 24 Stunden später war er tot. In seiner Hosentasche fand die Familie einen weiteren Strafzettel. «Wir wissen nicht, warum sich Metuku getötet hat», sagt Serkalum. «Wir vermuten, dass es wegen der Geldbussen war.» Vielleicht waren sie in einem Leben ohne jegliche Chancen der Auslöser zu der Verzweiflungstat.
Die Grossmutter in ihrem Schmerz war und ist also keine grosse Hilfe für Tochter Serkalum und die drei Kinder. Arme Mütter ohne Schulbildung haben kaum eine Chance, alleine aus der Not herauszukommen. Sie können für einen extrem niedrigen Lohn als Wäscherinnen arbeiten. Manche prostituieren sich. Eine weitere Möglichkeit ist, über der Feuerstelle in Tonkrügen Arake zu destillieren, den lokalen Fusel. Serkalum entschied sich für das Schnapsbrennen, doch die Kosten für das Getreide waren hoch und der Verdienst winzig.
Also musste Kanaan die Schule in der dritten Klasse abbrechen. Sie begann, als Tellerwäscherin und Abräumerin in einer Kaffeebude am Marktplatz der Stadt zu arbeiten. Dort bekam sie als Lohn ihre täglichen Mahlzeiten – aber kein Geld: Endstation Perspektivlosigkeit, im Alter von zehn Jahren.
Doch die Sozialarbeiter von Menschen für Menschen wurden auf Kanaan aufmerksam. Das Mädchen wurde in das Projekt aufgenommen, das den 1000 ärmsten Kindern der Stadt Lebenschancen geben will. Mutter Serkalum konnte einer Selbsthilfegruppe beitreten und bekam damit Zugang zu Mikrokrediten. «Die Schulungen in der Gruppe haben mir die Augen geöffnet: Es gibt andere, bessere Möglichkeiten als das Schnapsbrennen», sagt sie heute. Zum Beispiel: Gemüsehandel. Jetzt kauft sie Produkte der Bauern in den umliegenden Dörfern und verkauft sie mit einem Aufschlag auf dem städtischen Markt.
Kanaan kann wieder zur Schule gehen, denn das Schulmaterial und die Uniform bekommen die geförderten Kinder von Menschen für Menschen gestellt. Vor allem aber konnte Serkalum mit Kanaan und ihren weiteren Söhnen Barakat, 13 und Abi, 3, aus der Aschenputtel- Bleibe umziehen: Die Schweizer Stiftung errichtet einfache Sozialwohnungen nach lokalem Standard. In den Lehmbauten mit Blechdächern hat die Familie jetzt zwei Zimmer zur Verfügung. Auch Matratzen, Möbel und Haushaltsgeräte bekam die Familie. Es gibt elektrischen Strom, damit können die Kinder auch nach Sonnenuntergang noch lernen und spielen.
«Aber das Allerbeste ist, dass ich nicht mehr im Café arbeiten muss», sagt Kanaan. «Es war schlimm, dort zu sein, während die anderen Kinder in der Schule waren oder spielten.»
Sehr gerne mag sie Verstecken. «Am liebsten suche ich die anderen Kinder», sagt Kanaan. «Ich möchte einmal Polizistin werden!» Aber eine richtige Polizistin, die Gutes tut, statt armen Rikschafahrern Strafzettel zu verpassen. «Dann jage ich Kriminelle. Wenn Leute miteinander kämpfen, schlichte ich den Streit», sagt Kanaan. «Alle sollen ein gutes Leben haben.»
WARUM WIR HELFEN
Ohne Hilfe von aussen haben die 1000 ärmsten Kinder in der Grossstadt Debre Berhan keine Chance. Ihre Wohnsituation in den Slums ist häufig menschenunwürdig. Oft sind ihre meist alleinerziehenden Mütter so arm, dass sie ihnen nicht einmal Stifte und Hefte kaufen und die Kinder nicht zur Schule gehen können.
WAS WIR ERREICHEN
- Die Kinderarbeit ist beendet. Die 1000 geförderten Kinder gehen zur Schule
- Rund 200 Mütter betreiben dank Mikrokrediten ein kleines Gewerbe
- Pro Jahr ermöglichen wir circa 90 akut erkrankten Kindern die nötige medizinische Behandlung
- Bislang konnten 63 alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern in menschenwürdige Wohnungen einziehen
- Rund 20.000 Schulkinder erhielten an ihren Schulen Zugang zu Trinkwasser und Sanitäranlagen