Ärztin werden: Das war Martas Traum. Stattdessen wurde sie mit Gewalt in eine Kinderehe gezwungen. Mit 15 Jahren war sie schon Mutter. Jetzt befreit sie sich und andere Mädchen aus ihrer Machtlosigkeit. Im «Schulclub» von Menschen für Menschen kämpft sie für Gleichstellung und Fortschritt.
«Buben und Mädchen haben die gleichen Rechte!», ruft Marta in die Menge: Die Lehrer an der Primarschule im Dorf Odomike haben die Schüler auf der Schulwiese unter einem Baum versammelt und Marta erzählt ihre Geschichte: «Sorgt dafür, dass sich mein Schicksal nicht wiederholt!» Marta Berhane lebt im abgelegenen Bezirk Abaya im Süden Äthiopiens, wo Mädchen und Frauen traditionell benachteiligt sind und unter schier unfassbaren Traditionen leiden – auch Marta wurde zum Opfer: Mit 14 Jahren besuchte sie ihre Schwester, die in einem entlegenen Dorf verheiratet ist. Eine benachbarte Familie lud Marta zu sich nach Hause zum Kaffee ein. Arglos nahm Marta die Einladung an. Im Lehmhaus wartete Girdscha, der Sohn der Nachbarn, ein paar Jahre älter als Marta – und vergewaltigte sie.
Girdschas Angehörige versteckten und bewachten Marta. Seine Mutter bot ihr Essen an, zwei Tage lang lehnte sie es ab. Die Mutter sprach von einer Kuh und Kleidern und Ohrringen aus Gold, mit Geschenken überhäuft würde Marta bei der Hochzeit mit ihrem Sohn werden. Nachts musste Marta bei Girdscha liegen. So vergingen Wochen.
Girdscha und seine Familie fanden nicht, dass sie ein Verbrechen begingen. Sie führten einfach eine alte Tradition namens Telefa durch: Seit Jahrhunderten hatten Männer eine Auserkorene mit Gewalt zur Heirat gezwungen. Zwar hat die Regierung in der fernen Hauptstadt Addis Abeba die Brautentführungen und andere schädlichen Traditionen wie die Ehe von Minderjährigen verboten. Doch der Arm des Gesetzes reicht nicht in alle Winkel.
Nach zwei Monaten wurde Marta schwanger. Damit war ihr Lebensweg endgültig besiegelt. Girdschas Familie schaltete einige ehrwürdige alte Männer als Vermittler ein und Martas Eltern stimmten zu: Girdscha bekam das Mädchen zur Frau, «bis dass der Tod sie scheidet». Goldschmuck bekam Marta nicht und die Schule musste sie aufgeben, nun wartete ein traditionelles Dasein als Mutter vieler Kinder auf sie.
Dem Opfer bleibt keine Wahl
Warum kämpften Martas Eltern nicht? Warum blieb sie bei ihrem Vergewaltiger? «Es ist wie ein Gesetz: Wenn du einmal Geschlechtsverkehr mit einem Mann hast, und das Dorf weiss es, musst du ihn heiraten», erklärt Marta. Eine Vergewaltigung nach dieser pervertierten Sitte ist damit eine bewusste Entehrung des Opfers, das ihm keine Wahl lässt – die einzige Möglichkeit, das Ansehen wiederherzustellen ist es, die Frau des Täters zu werden.
Inzwischen hat Marta zwei Kinder. Neben der Tochter Belisse, 5, kam noch Firumsa zur Welt, ein Junge, jetzt drei Jahre alt. Ein altes Sprichwort lautet: «Die Liebe kommt nach der Hochzeit.» Stimmt das auch für die Zwangsehen in Äthiopien? Liebt Marta ihren Ehemann? «Er ist gut zu mir», antwortet sie ausweichend. Marta ist jetzt 20 Jahre alt, manche ihrer früheren Klassenkameradinnen haben es mittlerweile auf die Universität geschafft. Doch sie musste wegen ihrer Mutterschaft fünf Jahre aussetzen.
Aber Marta fügte sich nicht einfach. Sie überzeugte ihren Ehemann, dass es gut für die Familie wäre, wenn sie die Schule fortsetzt. Jetzt besucht sie die siebte Klasse der Primarschule. Die hochgewachsene Frau zwängt sich zwischen Pubertierenden in die Schulbank. Ist sie gar nicht wütend auf ihren Mann? «Manchmal schon», sagt Marta. «Aber wir haben zwei Kinder. Ich muss ihn lieben.»
Wichtig für Marta ist, dass sie sich jetzt aus ihrer Rolle als Opfer befreit. Ihr Mann willigte ein, dass sie zu ihren Eltern zieht, damit Martas Mutter auf die Kinder aufpassen kann, während sie den Unterricht besucht. Zusammen mit der Achtklässlerin Bilise Tscheneke, 15, ist sie die treibende Kraft im «Schulclub für Gesundheit und Gleichberechtigung», der von Menschen für Menschen ins Leben gerufen wurde. «Wir warnen die Mitschüler vor den grossen Gefahren in der Jugend», erklärt Bilise: «Manche Mädchen verlieben sich, aber wenn sie mit ihrem Freund zusammen sein wollen, müssen sie zuerst heiraten. Doch frühe Beziehungen führen zu Schulabbrüchen, vielen Kindern und damit zu grosser Armut.» Marta ergänzt: «Die Überbevölkerung ist das Kernproblem bei uns, die Familien haben zu kleine Felder. Wir klären die Mitschüler über schädliche Traditionen wie Telefa und Frühehen auf. Wir sprechen über Familienplanung und wie wichtig Bildung gerade für Mädchen ist.»
Marta ist selbst ein Opfer schädlicher Traditionen und doch ist sie dabei, die althergebrachte Ohnmacht äthiopischer Mädchen und Frauen zu überwinden. Alle drei Monate geht sie zur Gesundheitsstation und holt sich eine Verhütungsspritze: Eine neue Schwangerschaft würde ihren Lebensplan seit Kindheitstagen endgültig zerstören. «Ich werde meinen Traum doch noch verwirklichen», sagt Marta: «Ich werde Medizin studieren. » Und wenn dieser Plan nicht aufgeht? Marta antwortet knapp und ernst: «Er wird klappen.»
«Es gibt noch viel zu tun»
Auch in anderen Projekten startet Menschen für Menschen Schulclubs. An einer der Primarschulen in der Stadt Debre Berhan diskutieren 83 Mädchen im «Girls Club» regelmässig über Gleichberechtigung. Sie schreiben Gedichte und Theaterstücke für mehr Gerechtigkeit.
Bayush Bogale, 14: «Ich habe drei Schwestern und einen Bruder. Als meine Mutter so alt war wie ich, musste sie heiraten. Sie sagt immer zu mir: «Du sollst ein besseres Leben führen als ich. Gib acht in der Schule, streng dich an.» Aber das ist gar nicht so einfach: In meinem Dorf müssen die Mädchen im Haus und auf dem Feld helfen. Von den Knaben wird keine Hausarbeit erwartet. Das ist nicht gerecht.»
Ananya Mose, 13: Das Problem ist die Gesellschaft. Es gibt ein altes Sprichwort bei uns: «Frauen gehören ins Haus.» Wenn nun ein Bube seine Schwester im Haus entlasten und mithelfen will, sagen die anderen zu ihm: «Bist du ein Mädchen?» So geht es meinem Bruder. Wir müssen die Leute aufklären, dass wir Mädchen das Recht auf gleiche Behandlung haben. Ich spreche mit meinen Freundinnen und Freunden und die sprechen mit ihren Eltern. Manche Erwachsenen hören uns zu. Aber es gibt noch viel zu tun.
WARUM WIR HELFEN
In abgelegenen Gebieten Äthiopiens werden viele Mädchen in Kinderehen gezwungen. Ohne Familienplanung bekommen junge Frauen so viele Kinder, dass ihr Entwicklungspotential zerstört und ihr Lebensweg in Armut zementiert wird. Durch die zahlreichen und frühen Schwangerschaften leidet zudem die Gesundheit der Frauen. Es geht darum, die Benachteiligung der Mädchen und Frauen zu beenden und so den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen.
WAS WIR ERREICHEN
- Wir gründen Schulclubs und unterstützen junge Leute, die sich für Aufklärung und gegen schädliche Traditionen einsetzen.
- Wir bilden freiwillige Helfer in Familienplanung aus, damit sie ihr Wissen in den Dörfern weitergeben können. Denn durch die zahlreichen und frühen Schwangerschaften leiden das Entwicklungspotential und die Gesundheit der Frauen.
- Wir sorgen mit Schulungen und landwirtschaftlichen Hilfen dafür, dass die Ernten und damit die Einkommen steigen und die Familien allen Söhnen und Töchtern eine Schulbildung ermöglichen können.