Extreme Dürre in Äthiopien – vergebliche Suche nach Wasser und Weiden:
Warum die Hirten im Süden Äthiopiens dringend Nothilfe brauchen
Selbst Kamele verhungern und verdursten: Am ganzen Horn von Afrika herrscht eine schwere Dürre. Im Süden Äthiopiens haben viele Nomadenfamilien bereits sämtliches Vieh verloren. Sie essen nur noch eine Mahlzeit am Tag, meist Maisgrütze. Warum funktionieren die traditionellen Dürre-Strategien der Nomaden nicht mehr? Ein Hintergrundbericht.
Bis auf die Knochen abgemagerte Rinder in Borena
Borena, ganz im Süden Äthiopiens an der Grenze zu Kenia im Juni 2022: Seit zwei Jahren hat es kaum geregnet. Nur die Schirme einzelner Akazien spenden Schatten in der glühenden Savanne. Als grüne Punkte sind sie in die rostrote Weite getüpfelt: Der Boden ist nackt, das Gras vertrocknet. Der Wind hebt Staubhosen in den Himmel. An den Rindern, die matt durch die Savanne trotten, kann man die Rippen zählen. Die Hirten, die mit ihnen weiter durch die Savanne auf der Suche nach Wasser und Futter streifen, tun dies oft vergeblich. Bis Mitte Juni verendeten rund 1,5 Millionen Herdentiere, vor allem Rinder, von rund 200’000 Familien. Aber auch Ziegen und sogar Kamele verhungern und verdursten. Der Schaden für die Region liegt bislang bei umgerechnet 220 Millionen Franken.
Doch der materielle Betrag kann die wahre Not kaum erfassen: Für die Borena-Hirten ist das Vieh der einzige Besitz. Die Familien sind dringend auf den Verkauf ihrer Tiere angewiesen, um Getreide kaufen zu können. Das noch verbliebene abgemagerte Vieh bringt kaum Erlöse. Die Preise der Lebensmittel in Äthiopien sind seit Beginn der Corona-Pandemie drastisch gestiegen. Die Inflationsrate im ganzen Land beträgt 37 Prozent. Die armen Hirtenfamilien können sich die wenigen Lebensmittel auf den Märkten nicht mehr leisten.
Auch die traditionellen Bewältigungsstrategien der Nomaden-Gemeinschaften sichern das Überleben nicht mehr.
«Wenn der Adler nach Beute sucht, folgen ihm die kleinen Vögel»
So lautet eine Weisheit der Borena-Hirten: Früher konnten arme Familien mit wohlhabenden Viehzüchtern herumziehen, in der Erwartung, dass sie von diesen mitversorgt wurden, mit Milch beispielsweise. Aber die Kühe in Borena geben keine Milch mehr. Und die Familien haben keine Zeit mehr, grössere Herden aufzubauen und relativ wohlhabend zu werden aufgrund der immer häufigeren Klimakrisen: Vor der jetzigen Notlage erlebten die Hirten bereits 2015/2016 und 2011 lange Monate grosser Trockenheit.
Ein Tanklaster bringt kostbares Wasser
Jetzt ist das gesamte Horn von Afrika erneut betroffen. Gerade die nomadisch lebenden Viehzüchter «drohen zu verhungern, nachdem vier aufeinanderfolgende Regenzeiten in Teilen Äthiopiens, Kenias und Somalias ausgeblieben sind – ein klimatisches Ereignis, das es seit mindestens 40 Jahren nicht mehr gegeben hat», warnt die UN-Organisation OCHA in einem Update zur Lage. «Die Regenzeiten von Oktober-Dezember 2020, März-Mai 2021, Oktober-Dezember 2021 und März-Mai 2022 waren allesamt von unterdurchschnittlichen Niederschlägen geprägt, sodass grosse Teile Somalias, des südlichen und südöstlichen Äthiopiens sowie des nördlichen und östlichen Kenias mit der längsten Dürre der jüngeren Geschichte konfrontiert sind. Die Regenzeit von März bis Mai 2022 ist wahrscheinlich die trockenste seit Beginn der Aufzeichnungen.»
Das abgemagerte Vieh in Borena ist fast unverkäuflich. Die Händler aus den grossen Städten bleiben aus. In dem Marktflecken Dubuluk zum Beispiel wurden früher jeden Freitag rund 6000 Ziegen, 2000 bis 3000 Rinder und 550 Kamele verkauft, häufig, um nach Saudi-Arabien exportiert zu werden. Am Markttag am 10. Juni jedoch wurde nur einige hundert Rinder und Ziegen verkauft, Kamele lediglich sieben Stück.
Für die aktuelle Krise verantwortlich ist das erneute Ausbleiben der Regenzeit, die in Borena normalerweise von Mitte März bis Mitte Mai dauert. Im Durchschnitt hat es in den Bezirken der Region nur an zwei bis vier Tagen Niederschläge gegeben. Zum Vergleich: In guten Jahren regnete es früher an mehr als 45 Tagen, in durchschnittlichen Jahren immer noch an 20 bis 30 Tagen. 88 Gemeinden in der Region meldeten „nur minimale Regenfälle“. In 25 Gemeinden regnete es keinen Tropfen.
Am Rande der Siedlungen campieren Nomaden, die ihr Vieh verloren haben
Menschen für Menschen hat die Situation vor Ort zusammen mit der einheimischen NGO «Support for Sustainable Development» in den Bezirken Dubuluk und Elwaye untersucht. Infolgedessen sind «Notfälle weit verbreitet, und es besteht das Risiko, dass die Unterernährung ein extrem kritisches Niveau erreicht und eine hohe hungerbedingte Sterblichkeitsrate auftritt». Der Anteil der hilfsbedürftigen Bevölkerung liege in Dubuluk und Elwaye bei 81 Prozent (41’145 Menschen) bzw. 67 Prozent (39’136 Menschen).
Die Stiftung hat sich entschieden, ein Nothilfeprogramm für die Familien zu organisieren, die am meisten gefährdet sind: In fünf Zentren für «Internally displaced persons» (IDPs) werden Klimaflüchtlinge versorgt, die sämtliche Nutztiere verloren haben. Die meisten von ihnen nehmen nur noch eine Mahlzeit am Tag ein, meist Maisgrütze.
Im September sollte dann die saisonale Regenzeit einsetzen, die endlich Entlastung bringen müsste, in Verbindung mit traditionellen Bewältigungsstrategien: «Debere» bedeutet so viel wie «Abgeben». Wer noch Tiere hat, gibt zwei oder drei Stück Vieh an bedürftige Familien. Nach einem oder zwei Jahren gibt der Empfänger so viele Tiere an den Geber zurück, wie er bekommen hat. «Busa» heisst die Tradition, dass eine Familie einer bedürftigen Familie aus der Verwandtschaft oder Ethnie eine oder mehrere Ziegen oder Rinder schenkt.
Eine weitere Weisheit der Borena-Hirten lautet:
«Wenn ein armer Mann herumläuft, halten andere ihn für einen faulen Menschen.»
Man kann das Sprichwort so interpretieren: «Ohne die Gründe für eine Notlage zu kennen, ist ein Urteil schnell gefällt.» Sicherlich hat das Bevölkerungswachstum in Borena zur Not der Hirten beigetragen: Es sind mehr Familien als noch vor fünfzig Jahren in der Savanne unterwegs, die sich Wasser und Weiden teilen müssen. Doch da die Dürren häufiger und schwerwiegender werden, scheint sicher, dass die Nomaden Borenas zu Opfern des globalen Klimawandels werden. Für den sie nichts können: Dafür ist die Lebensweise der vergangenen Jahrzehnte in den reichen Ländern verantwortlich.
«Was soll nur aus den Kindern werden?»
Nomaden als Klimaflüchtlinge: In den Lagern für IDPs (Internally Displaced Persons, zu deutsch Binnenvertriebene) in Borena sammeln sich Menschen, die dringend Hilfe und Hoffnung brauchen.
Debo Jarso, Mutter von vier Kindern
Früher hatte die Familie von Debo Jarso, eine Mutter von vier Kindern, rund zweihundert Rinder. Mit zwei verbliebenen Tieren kam die Nomadin in der Siedlung Horbatie an, in der Hoffnung auf Lebensmittel für die Kinder und Futter für die verbliebenen Tiere – aber die beiden Rinder waren zu schwach und verendeten.
Bokayo Halahie, 60 Jahre
Bokayo Halahie ist 60 Jahre alt und alleinstehend. Sie war nie verheiratet, hat keine Kinder. Ihre drei Rinder waren bereits verendet, als sie sich entschloss, aus der Savanne nach Horbatie zu wandern. «Wenn ich sterbe, möchte ich, dass mich jemand begräbt. Deshalb kam ich in die Siedlung. Alle Familien in meinem Heimatort sind weitergezogen, um Weide und Wasser zu suchen.»
Dange Dima, 96 Jahre
Dange Dima gibt sein Alter mit 96 Jahren an. Seine Kinder seien weit entfernt auf der Suche nach Futter. Er könne mit den Jüngeren nicht mehr Schritt halten und sei deshalb von einem Sohn in die Siedlung gebracht worden. Seine Kinder hätten über 100 Rinder gehabt, zuletzt seien es noch 14 gewesen. «Ich habe lang genug gelebt, möchte niemandem zur Last fallen und friedlich sterben», sagt der alte Nomade. «Aber ich mache mir grosse Sorgen um meine Kinder und Enkel. Was soll aus ihnen werden?»