Eine Ausbildung machen, eine Familie gründen, sich ein kleines Glück erarbeiten: Das ist für die nachkommende Generation in der Schweiz selbstverständlich. In Äthiopien bleibt ein gutes Dasein für viele ein unerfüllbarer Traum, weil die Arbeitsstellen fehlen. Menschen für Menschen unterstützt die jungen Leute in ihrem Kampf für ein besseres Leben.
EIN WINZIGER LADEN, verkleidet mit rissigen Spanplatten: Auf fünf Quadratmetern verbringt Abraham Haileleul, 23, seine Zeit. Manchmal geht er auf einen Tee in eine Imbissbude oder besucht seine Eltern für ein, zwei Stunden. Ansonsten trifft man ihn im Laden an einer belebten Strassenecke in Debre Berhan an, sieben Tage die Woche. Nach Sonnenuntergang sperrt Abraham zu und legt sich auf eine Matratze aus Schaumstoff neben dem Tisch mit dem Computer und dem Lötkolben: «Ich habe Angst, dass Einbrecher meine Geräte stehlen könnten, deshalb schlafe ich hier.»
Abrahams berufliche Zukunft schien zu Ende, noch bevor sie beginnen konnte: «Mein Abschlusszeugnis an der Schule war nicht gut genug», sagt Abraham. «Ich durfte nicht an die Universität.» Äthiopiens Bevölkerung wächst jährlich um drei Millionen Menschen. Deshalb kämpfen hunderttausende ambitionierter Jugendliche um einen Studienplatz. Aber nur ein Bruchteil der Prüflinge schafft die erforderlichen Noten. Für viele Abgänger gibt es keine Perspektive: Es fehlen das Handwerk und der Mittelstand, es gibt kaum Betriebe und Grossunternehmen, die Arbeitsplätze bieten.
«Nach der Schule versuchte ich es als Schuhputzer», berichtet der 23-Jährige. «Ich verdiente fast nichts.»
Deshalb unterstützt Menschen für Menschen in Debre Berhan 120 arbeitslose junge Leute. Sie erhalten berufsbildende Kurse, Beratung bei Geschäftsideen und ein kleines Startkapital, um zu Gründerinnen und Gründern zu werden. Abraham hatte schon während der Schulzeit einem Freund über die Schulter geblickt, der einen Servicedienst für Mobiltelefone hat. Der Freund zeigte ihm die Kniffe, liess ihn einfache Reparaturen ausführen. Abraham entdeckte sein Basteltalent.
Menschen für Menschen investierte 338 Franken in seine Zukunft. Die Stiftung finanzierte ihm einen dreimonatigen Kurs, in dem er seine Kenntnisse erweiterte, und den Kauf der notwendigsten Werkzeuge und Geräte. Jetzt liegt es an Abraham: Er verkauft auf Kommission Telefonzubehör, lädt den Kunden gegen eine kleine Gebühr Actionfilme und Liebesschnulzen auf ihre USB-Sticks. Vor allem aber repariert er gegen ein paar Franken die alten Nokia-Telefone der Bauern aus dem Umland und die Smartphones der etwas bessergestellten Städter.
Vor vier Monaten hat er den Laden eröffnet. Dank der Werbung von Mund zu Mund geht das Geschäft immer besser.
«Für mich ist das eine grosse Chance», sagt Abraham nüchtern. «Ohne sie würde ich wohl irgendwann verzweifeln und aufgeben.»
Er fühle sich nicht mehr machtlos: «Jetzt kann ich mein Leben selbst in die Hand nehmen.»
JUNGE GENOSSENSCHAFT
Abrahams Geschäft kann wachsen, weil er in der Stadt genug Kunden findet. Schwieriger ist die Lage für junge Leute in abgelegenen Bezirken. Abaya liegt im ländlichen Süden des Landes. Neun von zehn Menschen leben von der Landwirtschaft. Wer kein Land hat, muss sich als Tagelöhner andienen. Fürs Unkrautjäten oder dem Ernten von Kaffeekirschen gibt es umgerechnet einen Franken am Tag.
Auch die Schulnoten von Heiwan Bezuneh, 18, waren nach der 10. Klasse nicht gut genug. Sie braucht genauso einen Platz im Leben wie Esudalul Amenu, 22. Er träumt von einem Leben als Geschäftsmann.
«Aber das geht nur mit einem Startkapital.»
Am Handgelenk trägt er eine glitzernde Uhr, doch als Statussymbol taugt sie nicht: Esudalul hat sie auf dem lokalen Markt gekauft, ein chinesisches Modell, für drei Franken. Menschen für Menschen hat Heiwan und Esudalul in ihrer Heimatgemeinde Gangua nun in einem genossenschaftlichen Unternehmen zusammengebracht.
Schulungen in Betriebsführung und ein Kleinkredit über umgerechnet 1500 Franken sorgen dafür, dass vier junge Frauen und vier junge Männer gemeinsam wirtschaften können. Das Ziel ist, dass die Kooperative nach wenigen Jahren ganz auf eigenen Beinen steht.
Die junge Genossenschaft hat sich für die Aufzucht von Hühnerküken entschieden. Die jungen Leute kaufen die gerade geschlüpften Tiere für umgerechnet 1.50 Franken. Sie füttern sie, versorgen sie mit frischem Wasser, halten den Stall sauber, nachts unterhalten sie ein Feuer in einem einfachen Ofen, denn die kleinen Körper unterkühlen leicht. Nach 45 Tagen kann die Genossenschaft die Junghühner auf den Märkten der Gegend für 2.10 Franken an Bauern verkaufen.
Mit dem Erlös konnten die jungen Leute gleich nach der Aufzucht der ersten 1000 Küken ihren Betrieb auf 1400 Tiere erweitern. Fast das gesamte Geld reinvestieren sie in den Betrieb. Nur 20 Franken zahlen sie sich als kleinen Monatslohn aus.
«Ich bin zufrieden, vor allem, wenn ich an die Alternative denke», sagt Heiwan, «nämlich untätig sein zu müssen.»
Demnächst wollen sie diversifizieren. Nicht mehr alle Junghühner weiterverkaufen, sondern einige Dutzend behalten, um einen Eierhandel zu starten. Die jungen Leute arbeiten vier Tage in der Genossenschaft. Die restliche Zeit widmet Esudalul seinem Studium. Er belegt an einem privaten College Betriebswirtschaft. «In fünf Jahren werde ich zwar immer noch mit der Genossenschaft arbeiten, aber mit meinem Verdienst auch ein eigenes Geschäft begonnen haben», betont er. Der Handel mit Hühnereiern sei lukrativ und biete ein stetiges Einkommen. Auf dem lokalen Markt bringt ein Ei 15 Rappen – das ist teuer bei gängigen Löhnen von einem bis zwei Franken am Tag für ungelernte Arbeiter. Auch für Heiwan soll die Kooperative ein Sprungbrett sein: «Ich möchte einen Friseursalon eröffnen. Das war schon immer mein Wunsch.»
EIN LEBEN IN WÜRDE
Während auf dem Land viele arme Familien dank traditioneller Nachbarschaftshilfe überleben, sind in den Städten die Menschen auf sich gestellt – der Staat spannt in der Not keinen Rettungsschirm auf. Das zeigte sich ganz besonders in der Covid-Pandemie: Als sich die Einwohner von Addis Abeba isolierten, verlor der Mann von Meseret Tegene, 28, seinen Job als Taxifahrer und sie die Laufkundschaft in ihrem Strassenimbiss. Die junge Familie hatte grosse Mühe, die Miete ihrer winzigen Ein-Zimmer-Bleibe zu zahlen. Notgedrungen sparten sie am Essen. Ihr kleiner Sohn Amen wurde krank, sein Körper zeigte Spuren von Unterernährung. Auch die Tochter von Sara Mulugeta, 24, war unterernährt. Menschen für Menschen half beiden jungen Frauen: Sie bekamen regelmässig eine proteinreiche Getreidemischung. Gleichzeitig konnten sie eine halbjährige Ausbildung als Hauswirtschafterinnen beginnen. Ihre Kleinkinder wurden währenddessen in der Krippe der Stiftung aufgepäppelt.
Gleich nach der Ausbildung bekamen beide Frauen Anstellungen in Kindergärten – die Betreuung von Kindern ist Teil der MfM-Ausbildung. «Ich kann mich selbst versorgen, das ist das Wichtigste für mich», sagt Meseret und lächelt. «Nicht mehr arbeitslos zu sein ist wunderbar», sagt Sara: «Mich am Morgen frisch zu machen, in die Stadt zu gehen, gleichwertig zu sein mit anderen!» Im Grunde sei es zweitrangig, womit sie ihr Geld verdiene, «Hauptsache, ich kann mir und meiner Familie ein Leben in Würde ermöglichen.» Aber am meisten, gibt sie dann etwas verlegen zu, würde es ihr gefallen, einen eigenen, privaten Kindergarten zu gründen, wie sie jetzt in Addis Abeba häufig entstehen. Warum auch nicht? Dank ihrer Ausbildung können die jungen Frauen grösser denken.
WARUM WIR HELFEN
Die Jugend in Arbeit und Brot zu bringen, ist vielleicht das grösste ungelöste Problem Äthiopiens. Die Frustration, keine Stelle zu finden, treibt gesellschaftliche und politische Instabilität an. Es ist herzzerreissend, so viele talentierte und engagierte junge Leute ohne Chancen zu sehen.
WAS WIR ERREICHEN
Wir sorgen dafür, dass junge Menschen in ihrer Heimat berufliche Chancen erhalten. In der Stadt Debre Berhan unterstützen wir 120 Gründerinnen und Gründer mit Schulungen und Startkapital bei der Gründung eines Kleingewerbes. In den Dörfern fördern wir junge Talente mit Mikrokrediten und landwirtschaftliche Startups. In Addis Abeba sorgen wir mit unserer Hauswirtschaftsausbildung dafür, dass arme Frauen in der Metropole zu gefragten Fachkräften werden – mittlerweile haben 1692 Absolventinnen den halbjährigen Kurs durchlaufen.