Salamawit Kenne, 32, hat ihren Mann seit sieben Jahren nicht gesehen. Wie lange kann ein Paar die Verbundenheit am Leben erhalten? «Die Liebe erträgt alles. Sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.» So steht es in den Paulusbriefen der Bibel – und Salamawit lebt danach. Sie hofft, dass sie dank ihrer Ausbildung bei Menschen für Menschen ihre Familie wieder zusammenführen kann.
Salamawit Kenne hat die Ausbildung zur Hauswirtschafterin abgeschlossen und erhielt eine Anstellung als Köchin.
«ER WAR MEIN ERSTER FREUND. Zum ersten Mal war ich glücklich», erzählt Salamawit und lächelt bei der Erinnerung. Als sie Andarge kennenlernte, war sie Anfang 20. Wie verliebt sie waren! Wie gerne sie zusammengezogen wären! Doch beide mussten weiter mit Geschwistern und Eltern leben, denn selbst für winzige Löcher in den Slums von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba verlangen die Eigner umgerechnet 30 Franken im Monat. Für Tagelöhner ist das ein Monatseinkommen.
Bereits mit 13 Jahren hatte Salamawit die Schule aufgeben und als Hausmädchen arbeiten müssen, gegen Kost, Logis und einem Lohn von einem Franken – im Monat. Mit 15 wurde sie Hilfsarbeiterin auf dem Bau, mit 18 Sortiererin bei einem Kaffeehändler, mit 21 backte und verkaufte sie Kekse auf der Strasse, bis der Preis für Zucker stieg und kein Gewinn mehr zu machen war.
Erst nachdem ihre gemeinsame Tochter Lydia geboren worden war, zog sie mit ihrem Mann zusammen, in ein aus Wellblech gebautes Zimmer. Doch als Lydia knapp zwei Jahre alt war, kam Andarge eines Abends nicht zurück. Er war mit einigen Freunden aufgebrochen. Ihr Ziel: Europa. Seiner Frau hatte er nichts davon gesagt: «Er wusste, dass ich ihn nicht hätte ziehen lassen», sagt Salamawit. Andarge wollte den Durst in der Sahara überstehen, die Brutalität der Schlepper und Sicherheitskräfte in Libyen, das Mittelmeer. In ein paar Monaten würde er in Italien einen Job haben und Geld nach Hause schicken, damit es seine Familie endlich besser hätte. So sein Plan.
Wohnung im Slum: Viele Familien haben nur einen winzigen Raum.
Doch Andarge schaffte es nur bis ins Nachbarland: Der junge Äthiopier ist in Khartum gestrandet, der Hauptstadt im Sudan, so wie Tausende Äthiopier. Seit sieben Jahren hat er seine Familie nicht mehr gesehen. «Komm nach Hause!», fleht Salamawit in den Briefen, die sie Landsleuten nach Khartum mitgibt, und in den seltenen Telefonaten. Einmal sprach sie zwei Jahre lang nicht mit ihrem Mann. «Er schämt sich», erklärt Salamawit. «Er versteckt sich.» Andarge überlebt von Gelegenheitsarbeiten. Ohne Geld zurückzukommen, wäre für ihn das unerträgliche Eingeständnis, dass er versagt hat. Kürzlich bekam Salamawit Besuch von einem aus Khartum zurückgekehrten Bekannten. Er brachte das Tagebuch mit, das Andarge für seine inzwischen neunjährige Tochter Lydia geschrieben hatte. Es ist voll von Bedauern und Versprechen: «Eines Tages werde ich zurückkommen.»
Von Salamawit hängt nicht nur Lydia ab, sondern noch ein weiteres Kind, die dreijährige Kalkidan, die Tochter ihres Bruders. Die Mutter war wenige Monate nach der Geburt gestorben, also nahm Salamawit das Mädchen auf. So ist das häufig in den ärmsten Familien: Die Frauen sind es, die das Notwendige tun. Viele Männer dagegen halten ihre Machtlosigkeit nicht aus: Hungerlöhne und Lebenshaltungskosten klaffen auseinander; ihre Familie nicht versorgen zu können, ist der grösste Angriff auf die männliche Identität. Manche Männer flüchten in billigen Schnaps oder zu einer neuen Frau, einige in ein Luftschloss namens Europa.
Es gibt Mütter, die sich aus Not prostituieren. Viele lassen ihre Kinder bei Verwandten zurück, um auf legalen und illegalen Wegen in arabische Golfstaaten zu gelangen. Dort arbeiten sie als Hausbedienstete – und sind der Willkür der Hausherrn und Hausherrinnen ausgesetzt. Es gibt zahlreiche Berichte in der internationalen Presse über den Missbrauch äthiopischer Frauen in Arabien. Trotzdem überlegte auch Salamawit, an den Golf zu gehen. «Aber Lydia bei meiner Schwester zurückzulassen, das hätte mir das Herz gebrochen.»
Abschlussfeier: Das Diplom ist für die armen Frauen eine Garantie für ein besseres Leben.
Zum Glück hörte sie von der Ausbildung zur Hauswirtschafterin bei Menschen für Menschen. Salamawit wurde aufgenommen, weil sie die wichtigsten Voraussetzungen mitbrachte: besondere Armut und die Motivation, etwas aus sich zu machen. Direkt nach der halbjährigen Ausbildung fand sie eine Stelle als Köchin in einem Restaurant. Ihren ersten Lohn investierte sie in eine Friteuse. Damit stellt sie jetzt nachts Krapfen her – und verdoppelt ihr Einkommen auf rund 200 Schweizer Franken: «Endlich kann ich die Kinder menschenwürdig versorgen. Und ich traue mich jetzt, meine Ideen zu verwirklichen, habe Selbstvertrauen gewonnen.»
Über Gewährsleute will Salamawit ihrem Mann das Geld für die Rückreise in die Heimat senden. «Aber er sagt, er könne nicht mit leeren Händen zurückkehren», bedauert Salamawit. Also baut sie alleine weiter an der Zukunft. Morgens um 3 Uhr steht sie auf, um Krapfen zu backen. Um 6 Uhr verlässt sie das Haus, um im Restaurant zu arbeiten. Ihre Schwester kümmert sich um die Kinder und liefert die Krapfen an Kantinen. Nach der Arbeit im Restaurant besucht Salamawit die 10. Klasse der Abendschule bis 21 Uhr: «Ich möchte eine Ausbildung zum International Chef anhängen, als Voraussetzung muss ich die Schule abschliessen.» In fünf Jahren werde sie ihr eigenes Café haben.
Es fühle sich gut an, seines eigenen Glückes Schmied zu sein. «Und ich werde mit meinen Erfolgen meinen Mann überzeugen, dass er nach Hause kommen kann. Ich will keinen anderen. Ich liebe ihn sehr. Wir werden als richtige Familie leben.» Das hofft Salamawit ganz fest.
WARUM WIR HELFEN
Ungelernte, alleinstehende Mütter haben in der Millionenstadt Addis Abeba kaum eine Chance. Manche rutschen in die Armutsprostitution, um ihre Kinder zu ernähren. Andere versuchten ihr Glück als Hausangestellte in Arabien und leben dort in sklavenähnlichen Verhältnissen. Die Frauen brauchen Alternativen, um in ihrer Heimat mit ihren Kindern menschenwürdig leben zu können.
AKTIVITÄTEN
- In Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden wählen wir besonders arme Frauen aus.
- In einer halbjährigen Ausbildung bilden wir sie zu Hauswirtschafterinnen aus.
WAS WIR ERREICHEN
Rund 250 Frauen schliessen pro Jahr die Ausbildung ab und haben damit eine Jobgarantie. Sie können ohne fremde Hilfe für sich und ihre Kinder sorgen.