Zürich/Addis Abeba – Ein wesentlicher Grund für die Armut in Afrika: Viele Menschen haben keinen Zugang zu Bankkonten, Krediten oder Versicherungen. Sie können deshalb nicht in ihre kleinen Betriebe investieren und sind damit anfällig für weitere Verarmung. Dabei bräuchte es lediglich Mikrofinanzierungen von maximal 240 Franken, um nachhaltigen Wandel zu bringen. Das zeigen die Projektgebiete des Schweizer Hilfswerks Menschen für Menschen in Äthiopien.
Eine Armutsfalle ist ein Teufelskreis, der sich selbst verstärkt: Menschen können trotz harter Arbeit ihre Einkommen nicht verbessern. Als Ursachen gelten Entwicklungsökonomen meist geringe Bildung, mangelnde Arbeitsmöglichkeiten und niedrige Löhne. Oft spielt ein weiterer Faktor eine entscheidende Rolle: der fehlende Zugang zu Finanzdienstleistungen. «Arme Familien bekommen von den Banken keinen Rappen Kredit» sagt Dr. Martin Grunder, Projektkoordinator bei Menschen für Menschen. «Deshalb müssen sie sich auf ungerechte Abmachungen einlassen, die ihre Armut zementieren.»
In ihrem neuen Projektgebiet Hambela Wamena trafen die Mitarbeiter der Schweizer Stiftung auf die Familie von Shibere Senebe, 22, und ihrem Mann Tariku Beriso, 28. Die besondere Armut des Ehepaars erkennt man daran, in welchen Zwängen sie gefangen sind. Gerne würde das Paar Familienplanung betreiben. Doch im staatlichen Gesundheitsposten seien keine Gratis-Verhütungsmittel vorrätig. Es gibt die Präparate nur in der Apotheke in der nächsten Kleinstadt. Eine Injektion, die drei Monate vor Schwangerschaft schützt, kostet umgerechnet drei Franken. «Das können wir uns nicht leisten», sagt Shibere Senebe, die Mutter zweier kleiner Töchter ist.
78 Rappen für einen Tag Arbeit
Ihr Mann Tariku Beriso arbeitet als Tagelöhner. Für das Jäten auf Kartoffelfeldern bekommt er umgerechnet 47 Rappen, für das Pflücken von Kaffeekirschen 78 Rappen. Dieser Verdienst geht komplett in den Kauf von Grundnahrungsmitteln. Der Familienvater hat noch eine weitere Einnahmequelle. Er mästet Ochsen für andere Leute: Der Eigentümer überlässt Tariku Beriso das Tier. Dieser sorgt dafür, dass der Ochse mit Kräutern und Gras, gesammelt auf Brachflächen, möglichst viel an Gewicht zulegt. Nach drei Monaten wird der Ochse verkauft. Der Besitzer und Tariku Beriso teilen sich den Gewinn hälftig. Die Abmachung ist nur für den Eigentümer ein gutes Geschäft: Dieser rührt keinen Finger. Ausserdem komme es regelmässig vor, dass er betrogen werde, sagt Tariku Beriso. «Der Besitzer sagt mir, er habe den Ochsen für einen sehr hohen Preis gekauft. Dabei kenne ich die Marktpreise und weiss, dass er günstiger war.» So fällt die Marge zwischen angeblichem Kauf- und tatsächlichem Verkaufspreis des Ochsen nach dem Mästen geringer aus. Nach drei Monaten Arbeit bleiben Tariku Beriso nur ein Gewinn von 25 Franken. Wissend geht er auf den Betrug ein: «Ich habe keine andere Wahl.»
Mikrokredite als Starthilfe
«Ohne Hilfe wird sich die Familie nie aus diesen empörenden Zwängen befreien können. Ihre Armut wird auf ihre Kinder übertragen», erklärt Martin Grunder. «Dabei ist ihr Fall typisch: Wie tausende andere Familien hat sie das Potenzial, die Not hinter sich zu lassen – wenn sie nur einen kleinen Anschub von aussen bekommt.»
Wie könnte diese Starthilfe aussehen? «Wenn ich ganz auf eigene Rechnung Ochsen mästen könnte: Das wäre wunderbar!», sagt Tariku Beriso. Dies planen jetzt die Mitarbeiter im Menschen für Menschen-Projekt: Als eine von 340 Familien soll das Ehepaar einen Ochsen auf Basis eines fairen Mikrokredits über 250 Franken erhalten. Mit dem Gewinn aus dem Verkauf des gemästeten Ochsen kann die Familie ein neues Tier kaufen und anfangen, den Kredit zu tilgen. «Der Clou: Die Rückzahlung geht an eine bäuerliche Kooperative, die mit dem Geld weitere Kredite an Kleinbauern und Tagelöhner vergibt», sagt Martin Grunder. «So wirkt unser Investment in eine Familie als Initialzündung langfristig und nachhaltig in die Region hinein.»
Das Konzept hat seine Wirksamkeit bewiesen, etwa in Abaya, dem Nachbarbezirk von Hambela Wamena. Dort war die Familie von Birke Eshetu und ihrem Ehemann Tadesse vor acht Jahren in der gleichen Armutsfalle wie das Paar in Hambela Wamena. «Manchmal flüchte ich aus dem Haus und verstecke mich auf dem Feld, weil ich das Bitten der Kinder um Essen nicht mehr ertrage», sagte Birke Eshetu den Mitarbeitern von Menschen für Menschen zum Start des Hilfsprojekts. Ein Besuch im Sommer 2024 zeigt ihren nachhaltigen Fortschritt. Die Familie ist mit der Ochsenmast erfolgreich. Mit dem Gewinn konnten die Eltern ein Feld erwerben, auf dem sie Kaffee und Ensete anbauen. «Die Kinder gehen in die Schule», berichtet Birke Eshetu. «Wir nehmen drei Mahlzeiten ein und nicht wie früher nur eine am Tag.»
Manchmal vermietet die Familie ihre beiden Ochsen zum Pflügen, sie verdient damit in zwei Stunden so viel wie Tagelöhner Tariku Beriso in Hambela Wamena in drei Tagen. Der grösste Unterschied zu früher ist das Auftreten der Bauersfrau. In der Zeit der Not schien Birke Eshetus Gesicht leblos. Jetzt ist sie eine selbstbewusste Frau geworden. «Wir sind jetzt eine glückliche Familie», sagt Birke Eshetu.
Die Mikrokredite werden individuell an die Erfordernisse der Familien angepasst. Viele investieren statt in die Mast von Ochsen in den Beginn einer Ziegen- oder Schafzucht. Dieses Kleinvieh kann bereits mit einem Mikrokredit über 40 Franken erworben werden. Andere Familien, die ein Feld besitzen, setzen auf verbesserte Saaten und Mineraldünger und damit auf grössere Ernten – dann beträgt der Kreditbedarf 95 Franken.
Aufbau von Spargruppen
Menschen für Menschen beschränkt sich nicht auf die Vergabe von Krediten. Sowohl Birke Eshetu in Abaya wie jetzt Tariku Berisos Ehefrau Shibere Senebe in Hambela Wamena haben sich in neu gegründeten Frauen-Spargruppen organisiert. Dort erhalten die Frauen Schulungen, wie man erfolgreich Kleinhandel betreibt, aber auch zu Familienplanung, Kindererziehung und Gleichberechtigung. «So wird das bislang vernachlässigte Potenzial der Frauen für die Entwicklung geweckt», erklärt Martin Grunder.
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.
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