Eine Million Bäume gegen Armut
Zürich/Fogera, 20. September 2022 – In Äthiopien holzen arme Kleinbauern aus Not die letzten Wälder ab – und vergrössern ihr Elend damit weiter. Im Landbezirk Fogera hat die Stiftung Menschen für Menschen einen Wendepunkt erreicht: Die armen Familien haben dort neue Bäume gepflanzt, insgesamt 1’000’000 Exemplare.
Bäuerin Muchit Worke, 48, trägt an den Füssen keine Schuhe. Das ist erstaunlich, denn manche Äcker rund um den Hof ihrer Familie erinnern an Geröllfelder in den Alpen. Barfuss gehen muss eine Qual sein: Äcker und die Pfade darüber sind übersät von faustgrossen Steinen. Vom Mutterboden dagegen ist nur noch wenig da: In den Regenzeiten haben die Fluten die fruchtbare Erde abgespült. In den Trockenzeiten hat der Wind den feinen Boden weggeblasen. «Es ist, als ob wir in einer Wüste leben», sagt Muchit Worke.
Fogera, ein armer Bezirk im Norden Äthiopiens: So gut wie alle Einwohner sind Kleinbauern und Tagelöhner. Viele Familien haben weniger als einen Hektar Land – das entspricht eineinhalb Fussballfeldern. Sie leben allein von dem, was darauf wächst: Teff, das alte äthiopische Getreide, Hirse, Mais. Aber die Landwirtschaft auf den erschöpften Böden wirft nur wenig ab. Viele Familien haben viele Monate im Jahr nicht genug zu essen. Sie rationieren ihre Mahlzeiten, leiden Mangel und Not.
Massiver Waldverlust
Das hat auch mit dem Waldverlust zu tun. «Als ich vor dreissig Jahren heiratete und auf den Hof meines Mannes kam, waren hier zwei Drittel des Landes mit Bäumen bedeckt», erinnert sich Muchit Worke. «Das Vieh trieben wir einfach in den Wald zum Grasen.» Doch dann brauchten die jungen Leute Äcker, um ihre Kinder zu ernähren und rodeten die Bäume.
Vor rund hundert Jahren waren noch 40 Prozent von Äthiopiens Landschaft bewaldet. Heute sind es nur noch vier Prozent. Abholzung ist ein Problem in ganz Afrika. Pro Jahr gehen auf dem Kontinent 3,9 Millionen Hektar Wald verloren – eine Fläche, die fast der Grösse der Schweiz entspricht.
Wo der Wald verschwindet, verschlechtert sich das Mikroklima und der Wasserhaushalt, sinkt der Grundwasserspiegel, versiegen Bäche. In der Regenzeit gibt es keine Baumwurzeln mehr, die Niederschläge bremsen könnten – deshalb wird der Boden abgeschwemmt. Der globale Klimawandel, für den die reichen Länder verantwortlich sind, verstärkt die negative Entwicklung: Die kurzzeitigen Regen kommen heftiger und später – oder sie bleiben aus. Das erschwert die Aussaat und verkleinert die Ernten. Deshalb haben die Familien in Fogera viele Monate nicht genug zu essen.
Erstaunliches Wachstum
«Wir wollen die Kleinbauern widerstandsfähiger machen gegen die Klimaerwärmung und die Tragfähigkeit der Landschaft wiederherstellen», sagt Kelsang Kone, Geschäftsführer von Menschen für Menschen. «Mit Schulungen und landwirtschaftlichen Inputs wie verbessertem Saatgut erhöhen unsere Mitarbeiter die Resilienz der Familien.» Die Entwicklungsfachleute bringen den Kleinbauen bei, wie sie auf ihren Feldern möglichst gute Erträge erreichen. Beispielsweise durch Agroforstwirtschaft und Mischkulturen: Unter Obstbäumen gedeiht Gemüse, auf den Feldern werden gleichzeitig Bohnen und Getreide angebaut.
Innerhalb von drei Jahren hat die Schweizer Stiftung in einer eigens eingerichteten Pflanzschule eine Million Bäume gezogen. Mitte 2022 pflanzten die Entwicklungsexperten mit den Einheimischen das letzte Drittel – an Hängen und Erosionsgräben, an Schulen und auf dem Land einzelner Familien. Die Bauern setzen die Bäume als Erosionsschutz entlang Feldrainen und Hängen oder als Schattenbäume und Windschutz um ihre Höfe.
Muchit Workes Familie konnte 2021 rund 1000 Bäume pflanzen, im Vorjahr rund 2000. Zypressen, Akazien, aber vor allem australische Silbereichen. Unter den tropischen Bedingungen in Fogera und regelmässigem Wässern wachsen sie erstaunlich schnell: Die grössten Exemplare sind bereits rund vier Meter hoch.
Klimaschutz als Zusatzeffekt
Auf Dauer wird durch die Vielzahl der Pflanzungen das Kleinklima verbessert, der Wasserhaushalt stabilisiert und die Erosion gebremst, letztlich die Ernten verbessert. «Es geht vor allem um die Bekämpfung der Armut und die Sicherung der Ernährung», sagt Kelsang Kone. «Dass aber unsere Million Bäume in Fogera auch das Klimagas CO2 binden, ist ein willkommener zusätzlicher Nutzen.»
Allein die 3000 Bäume auf dem Land von Muchit Worke entziehen der Atmosphäre in zehn Jahren rund 166 Tonnen des Klimagifts CO2. Zum Vergleich: Bei einem Transatlantikflug entstehen pro Flugpassagier rund 2,5 Tonnen CO2. Die geraden Stämme der australischen Silbereiche eignen sich sehr gut als Bauholz. Wenn Muchit Workes Familie sie irgendwann einschlägt, um Einkommen zu erzielen, bleibt das CO2 somit klimafreundlich in Häusern gebunden. In Schulungen von Menschen für Menschen haben die Bauern das Konzept der Nachhaltigkeit kennengelernt: Jeder gefällte Baum muss durch neue ersetzt werden. «So machen wir es ab jetzt», sagt Muchit Worke. «Jedes Jahr pflanzen wir weitere Bäume um unsere Höfe und Felder.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.