Was macht eine gute Kindheit aus? Natürlich sind gütige Eltern entscheidend, wie sie der Bub Surafel und die Zwillingschwestern Tigist und Bilen haben. Doch es gibt weitere wichtige Grundlagen: Genug zu essen. Kontakt zu Gleichaltrigen ohne Mobbing. Eine Schule, in die Kinder gerne gehen. Diese Grundlagen haben die Geschwister erst seit eineinhalb Jahren – seit sie in einem Projekt von Menschen für Menschen für besonders arme Kinder sind.
Die Lehrerin hat ein Bilderbuch mitgebracht, mit vielen Zeichnungen von Tieren. Sie ruft: „Welche Tiere können Babys im Bauch haben?“ Die halbe Klasse meldet sich. Die Lehrerin ruft die Kinder auf, sie zeigen nacheinander auf die Tiere im Buch, auf den Hund, das Schaf, den Esel. „Welche Tiere bekommen ihre Jungen mit Eiern?“, fragt die Lehrerin dann. Tigist streckt ihren Arm, als wollte sie die Decke erreichen. Die Lehrerin nimmt sie dran. Tigist zeigt auf das Huhn, dann auf die Schlange. „Gut gemacht!“, sagt die Lehrerin. Tigist setzt sich lächelnd.
Unterricht in der ersten Klasse an einer Grundschule in der äthiopischen Stadt Debre Berhan. Auch Tigists Zwillingsschwester Bilen ist voll bei der Sache. Die beiden sind seit einem dreiviertel Jahr in der Schule. Noch können zwar nicht perfekt lesen, aber sie können es bereits viel besser als ihre Mutter und ihr Vater. Diese hatten nie die Chance, eine Schule zu besuchen.
Zwei Klassenräume weiter sitzt Surafel, ihr Bruder. Er hat Mathematik, sein Lieblingsfach. Bei einem Mathe-Wettbewerb war er einer der Besten. Stolz hat er zu Hause seine Urkunde gezeigt und sie seinen Eltern vorgelesen: „Surafel war erfolgreich“, steht darauf. Und: «Herzlichen Glückwunsch an die Eltern!»
Surafel und die Zwillinge: Für die drei Geschwister hat eine bessere Kindheit begonnen. Sie schlafen nicht mehr mit leerem Magen ein. Sie haben Schulbedarf und Schulkleidung. Und ihre Eltern sind nicht mehr so voller Sorgen und Anspannung. Denn Menschen für Menschen hat die Familie in die Förderung aufgenommen. In der Stadt Debre Berhan bekommen die 1200 ärmsten Kinder umfassende Unterstützung. Auch die Eltern werden beruflich mit Schulungen und Startkrediten für kleine Gewerbe gefördert. Das Ziel ist es, dass sie binnen weniger Jahre keine weitere Hilfe von aussen mehr brauchen, sondern ihren Kindern selbständig ein menschenwürdiges Aufwachsen und Lebenschancen bieten können.
Welcher Kontrast zu früher herrscht, wird im Gespräch mit der Mutter deutlich. «Wir mussten allein von dem leben, was ich beim gelegentlichen Rösten von Kichererbsen und mein Mann als Seilmacher verdiente», sagt Kelem Getachew, 38.
Ihr Mann Fekade Sebsibie, 41, steht vor dem Eingang des Lehmhauses, wo die Familienmitglieder alle in einem Raum leben, und flechtet Seile. Eine andere Arbeit findet er ohne Schulbildung nicht. In einer Woche stellt er zehn Stück her. Für ein Seil bekommt er auf dem Markt umgerechnet einen Franken. Aber die Kosten für seine Materialien liegen bei 50 Rappen pro Seil. Das bedeutet einen Wochenlohn von fünf Franken – auch in Äthiopien ist das ein bestürzend tiefes Einkommen. Denn bereits ein Kilogramm Weizenmehl kostet auf dem lokalen Markt rund 1,30 Franken.
«Früher haben wir oft nur ein Mal am Tag gegessen», erinnert sich Kelem Getachew. Gekochte Bohnen, gekochter Weizen, manchmal Injerra, das weiche und säuerliche äthiopische Fladenbrot. Dass Surafel seine Hausaufgaben mit Hunger im Bauch machte, sei für ihn nicht das Schlimmste gewesen, erinnert er sich: «Ich hatte keine gute Uniform. Ich schämte mich.»
An äthiopischen Schulen ist Einheitskleidung vorgeschrieben. Hosen, Röcke und Jacken aus billigem Synthetik-Stoff, von einheimischen Schneidern auf alten Nähmaschinen fabriziert. Wenn die Eltern das wenige Geld dafür nicht aufzubringen vermögen, können Lehrer und Schulrektoren unbarmherzig sein: Oft schicken sie Kinder ohne Uniformen wieder nach Hause.
Das blieb Surafel zwar erspart, denn seine Mutter bat die Nachbarin um die abgetragene Uniform ihres Sohns. Aber Surafel schoss in die Höhe und bald reichten die Hosenbeine nur noch bis unters Knie. Er hatte keine Wahl, auch wenn die Buben aus bessergestellten Familien spotteten: Er musste die Hose anziehen.
Zum Glück hat er von Menschen für Menschen eine neue Uniform bekommen. «Es macht mich froh», sagt Surafel. «Jetzt fühle ich mich gleich viel wert wie die anderen in der Klasse.» Auch das Lernen falle ihm leichter mit drei Mahlzeiten am Tag. Später einmal wolle er Fussballspieler werden. «Wenn das nicht klappt, dann Lastwagenfahrer.» Er sieht die Trucker auf seinem Weg zur Schule. Debre Berhan liegt an der Fernstrasse von der Hauptstadt Addis Abeba in Richtung Norden. Die Fahrer parken ihre Lastwagen, um in den Imbissen und Restaurants an der Durchfahrstrasse zu rasten und zu essen. Surafel schliesst daraus: «Als Fahrer kann man sehr viel Geld verdienen!»
Tigist dagegen will Pilotin werden: «Ich sehe die Flugzeuge immer winzig klein hoch oben im Himmel. Das würde ich auch gerne probieren!» Bilen will Lehrerin werden: «In die Schule zu gehen, ist schön!» Nicht nur wegen ihrem Lieblingsfach Amharisch. «Wir treffen viele Freunde, um zu spielen.» Sie spielen vor allem Fangen. Aber ihr Lieblingsspiel sei Gummitwist.
Im Haushalt sei Bilen die Fleissigere, sagt die Mutter. Das Mädchen helfe ihr gerne beim Kochen. Tigist dagegen ist glücklich, wenn sie mit ihren Büchern allein sein kann: «Ich lerne gerne!» In armen Haushalten in Äthiopien gibt es gewöhnlich keine Bücher. Aber Menschen für Menschen versorgt die Kinder nicht nur mit Schulheften, sondern auch mit Taschenbüchern zum Lesenlernen.
Die Eltern kamen ursprünglich vom Land in die Stadt. Sie gehörten zu der wachsenden Gruppe von Kleinbauern und Taglöhnern, die die Landwirtschaft nicht mehr ernähren kann. Aufgrund des Bevölkerungswachstums wurden die Äcker über Generationen immer weiter aufgeteilt. Oft hat jetzt die einzelne Familie nur noch ein winziges Feld zur Verfügung. Also wandern die ärmsten Dörfler in die Stadt, in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen. Doch in Debre Berhan wurde Fekade krank, er fühlte sich über Monate schwach und teilweise lebte das Paar obdachlos auf einem Kirchengelände wie andere Kranke und Schwache. Und wenn Fekade sich auch keine Medikamente zu leisten vermochte, konnte er sich an der Kirche doch täglich mit der einzigen Medizin versorgen, an der es nie mangelt: vom Priester geweihtes Wasser.
«Ich möchte nicht, dass meine Kinder so werden wie ich geworden bin», sagt Kelem Getachew: «Bei den Schularbeiten kann ich ihnen nicht helfen. Ich bedauere das aus tiefer Seele.» Manchmal frage die Mutter ihre Kinders, ob sie ihr etwas beibringen könnten. «Wie man die Buchstaben zu Wörtern zusammensetzt zum Beispiel. Sie erklären es mir, aber ich schaffe das Lesenlernen nicht mehr.» Kelem Getachew spricht ruhig und nüchtern. «Deshalb sage ich ihnen: Lernt! Ihr müsst lernen!»
Auch wenn Kelem Getachew nicht lesen und schreiben kann, hat Menschen für Menschen sie in die Berufsförderung aufgenommen. In der von der Stiftung initiierten Selbsthilfegruppe ist sie nicht die Einzige, die nie in einer Schule war. Die erfahrenen Sozialarbeiterinnen legen den Fokus auf die Praxis und die mündliche Weitergabe von Wissen. Sie unterrichten die Frauen, wie man ein Kleingeschäft führt. Danach können sie Mikrokredite nehmen, um ein Gewerbe zu beginnen. Kelem Getachew nahm umgerechnet 85 Franken auf und kaufte Teff, die Zwerghirse, aus der das beste Injerra gebacken werden kann: «Ich habe Glück, unsere Vermieterin lässt mich ihr Aussenküche nutzen!» Täglich bäckt sie an dem heissen Herd rund 50 Injerra, wagenradgrosse Brotfladen und verkauft sie im Stadtviertel. Auch nach Abzug der Kosten für das Getreide verdient sie jetzt vier Mal so viel wie ihr Mann als Seilmacher.
Noch leben sie von der Hand in den Mund, sagt Kelem Getachew. «Aber ich spare bereits an.» Sie möchte in den Kleinhandel einsteigen. Gewürze, Sandelholz, Erbsenpulver für traditionelle Saucen: «Da steckt viel mehr Verdienst drin als im Backen von Brot. Ich bin zuversichtlich, dass unsere Zukunft gut wird.»
«Wenn ich früher von der Schule nach Hause kam, gab es kein Lunch», erinnert sich Surafel. Jetzt wartet auf die drei Geschwister immer ein Mittagessen. Damit haben sie genug Energie für die Hausaufgaben. Und zwischendurch auch für ein Runde Gummitwist.