Zürich/Addis Abeba – Der Kampf gegen den weltweiten Hunger stagniert. Auch in grossen Metropolen Afrikas gibt es sogenannten «versteckten Hunger». Darauf weist das Schweizer Hilfswerk Menschen für Menschen hin. Gleichzeitig kürzt die Schweiz die Entwicklungszusammenarbeit, um mehr Geld für die Armee auszugeben. «Ein Armutszeugnis», sagt Co-Geschäftsführer Claudio Capaul: «Die Budgetkürzungen bedeuten für die Ärmsten dieser Welt noch mehr Not.»
Während in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba mit chinesischem Kapital Wolkenkratzer in den Himmel wachsen, herrscht in deren Schatten in Wellblechhütten Not. Gerade viele der kleinsten Kinder sind unterernährt. «Sogenannter verstecktet Hunger ist weit verbreitet», sagt Claudio Capaul. Das bedeutet, dass die Kinder zwar viele Kalorien zu sich nehmen, aber an einem Mangel an essenziellen Mikronährstoffen wie Vitamin A, Eisen, Zink oder Jod leiden. Bei Kindern unter fünf Jahren führt dies zu Wachstumsverzögerungen (Stunting), geschwächter Immunabwehr und einer erhöhten Anfälligkeit für lebensbedrohliche Krankheiten wie Durchfall oder Atemwegsinfektionen. Diese Defizite haben oft langfristige Folgen für ihre körperliche und geistige Entwicklung, die sich nicht mehr aufholen lassen. Weltweit ist jedes fünfte Kind unter fünf Jahren von Stunting betroffen.
Äthiopien verzeichnet zwar einen Rückgang des Stuntings. Vor zwanzig Jahren litten noch sechs von zehn Kinder unter den Wachstumsdefiziten. «Aber immer noch sind es ein Drittel der Kinder, die ihr Menschenrecht auf Entwicklung und Gesundheit nicht erhalten», sagt Claudio Capaul.
Darunter waren auch die Zwillinge von Eskedar Mizibel in Addis Abeba. Die junge Mutter lebte mit ihrem Mann in einem abgelegenen Dorf. Nach einer Missernte floh die Familie in die äthiopische Hauptstadt. Was ihr Mann hier als Schuhputzer verdient, reicht nicht, um die Töchter Afomia und Meba zu ernähren. Ein Jahr sind die Zwillinge alt. Also bittet Eskedar Mizibel vor Kirchen um Almosen. «Betteln ist schwer», sagt sie. «Denn du musst den Menschen dabei in die Augen schauen.» Die Eltern essen nur zwei Mal am Tag, um die Miete für ihr kleines Zimmer bezahlen zu können. «Wir lieben uns sehr», sagt Eskedar. «Doch wegen unserer Not gibt es immer wieder Streit.»
Kampf gegen den Hunger stagniert
Zwar bringt jetzt das Ernährungsprogramm von Menschen für Menschen in diesem Fall Erleichterung: Die Mutter bekommt wie 150 weitere Familien regelmässig ein mineralstoff- und proteinreiches Mehl aus Getreide und Hülsenfrüchten. Aber insgesamt sind die Vereinten Nationen weit von ihrem «Sustainable Development Goal» entfernt. Demnach sollte der Hunger in der Welt bis 2030 vollständig besiegt sein.
Dieser Kampf stagniert. Teils nahm die Zahl der Hungernden wieder zu. Rund 735 Millionen Menschen, also neun Prozent der Weltbevölkerung, sind laut UN von Hunger betroffen. Die Auswirkungen der Covid-Pandemie, Kriege, wirtschaftliche Abschwünge und der Klimawandel mit Missernten gefährden die in den vergangenen Jahrzehnten erzielten Erfolge.
«Trotzdem beschloss der Nationalrat in seiner Budgetdebatte in der vergangenen Woche, dass die Mehrausgaben für die Armee und die Landwirtschaft auf Kosten der ärmsten Familien in der Welt gehen sollen», kritisiert Claudio Capaul. Die Mehrausgaben sollen insbesondere mit einer 250-Millionen-Franken-Kürzung bei der Entwicklungszusammenarbeit kompensiert werden. «Das ist schon aus Eigennutz unverständlich», betont Capaul: «Armut fördert interne Konflikte und Flüchtlingsbewegungen, die sich international ausweiten können. Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb auch eine Investition in die globale Sicherheit und Schweizer Wirtschaftsbeziehungen.» Kurzfristige Einsparungen könnten die Schweiz langfristig sehr viel teurer zu stehen kommen.
Die Schweiz bricht ihr Versprechen
Die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit liegen bei nur noch 0,42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – entgegen international eingegangener Versprechungen von mindestens 0,7 Prozent. «Der Kahlschlag bleibt auch insofern unverständlich, dass die Schweizer Bevölkerung sich der Problemlage bewusst ist», sagt Claudio Capaul: Laut einer Studie des NADEL an der ETH Zürich seien zwei von drei Interviewten über globale Armut besorgt, wobei es kaum Unterschiede zwischen Altersgruppen, Geschlecht, Sprachregionen, Migrationshintergrund oder Einkommen gebe.
Wie entscheidend die wirtschaftliche Entwicklung für Afrika ist, auch das verdeutlicht das Beispiel von Eskedar Mizibel in Addis Abeba, die vor Kirchen für ihre Zwillinge bettelt: «Ich hoffe, nicht immer arm zu bleiben», sagt die Mutter. Sie hat auf einer Gewerbeschule eine Ausbildung in Mechatronik abgeschlossen. Nur gab es in ihrer Heimatbezirk keine Industrie. Sie glaubt an die Entwicklung des Landes und dass mit neuen Fabriken mehr Jobs entstehen. «Ich werde eine Arbeit finden!», sagt Eskedar Mizibel. «Wir werden es einmal besser haben.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.
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