Hirten in Äthiopien werden zu Klimaflüchtlingen
Zürich/Borena, 12. Juli 2022 – Am Horn von Afrika herrscht die schwerste Dürre seit vierzig Jahren. Im Süden Äthiopiens haben bereits viele Hirtenfamilien ihr gesamtes Vieh verloren. Sogar die besonders genügsamen Kamele verenden. Damit ist auch das Leben der Menschen in Gefahr: Die Nomaden werden zu Klimaflüchtlingen, die sich in Camps in Dörfern und Kleinstädten sammeln und dringend auf Nothilfe angewiesen sind. Das Schweizer Hilfswerk Menschen für Menschen startet mit der Verteilung von Nothilfepaketen.
Die drei Rinder von Bokayo Halahie, 60, waren bereits verendet, als sie sich entschloss, aus der Savanne in die Siedlung Horbatie zu wandern. «Alle Familien in meinem Heimatort sind weitergezogen, um Weide und Wasser zu suchen», sagt die alleinstehende Frau. «Deshalb kam ich hierher: Wenn ich sterbe, möchte ich, dass mich jemand begräbt.»
Früher hatte die Familie von Debo Jarso, eine Mutter von vier Kindern, rund zweihundert Rinder. Mit zwei verbliebenen Tieren kam die Nomadin in Horbatie an, in der Hoffnung auf Lebensmittel für die Kinder und Futter für die Tiere – aber die beiden Rinder waren zu schwach, auch sie verendeten.
Horbatie liegt in Borena, der südlichsten Region Äthiopiens: Seit zwei Jahren hat es kaum geregnet. Nur die Schirme einzelner Akazien spenden Schatten in der glühenden Savanne. Der Boden ist nackt, das Gras vertrocknet. An den Rindern, die matt durch die Savanne trotten, kann man die Rippen zählen. Die Hirten, die mit ihnen weiter durch die Savanne auf der Suche nach Wasser und Futter streifen, tun dies oft vergeblich. Laut staatlichen Stellen sind bereits mehr als eineinhalb Millionen Stück Vieh verendet, vor allem Rinder. Aber auch Ziegen und sogar Kamele verhungern und verdursten. Damit ist das Überleben von rund 200’000 Familien bedroht. Der Schaden liegt bislang bei umgerechnet 220 Millionen Franken.
«Doch der materielle Betrag kann die wahre Not kaum erfassen», sagt Kelsang Kone, Geschäftsführer des Schweizer Hilfswerks Menschen für Menschen. «Für die Borena-Hirten ist das Vieh der einzige Besitz. Die Familien sind dringend auf den Verkauf ihrer Tiere angewiesen, um Grundnahrungsmittel kaufen zu können.»
Zwei Jahre praktisch kein Regen
Das noch verbliebene abgemagerte Vieh bringt kaum Erlöse. Die Preise der Lebensmittel in Äthiopien sind seit Beginn der Corona-Pandemie drastisch gestiegen. Die Inflationsrate im ganzen Land beträgt 37 Prozent. Die armen Hirtenfamilien können sich die wenigen Lebensmittel auf den Märkten nicht mehr leisten.
Auch die traditionellen Bewältigungsstrategien der Nomaden-Gemeinschaften sichern das Überleben nicht mehr. «Wenn der Adler nach Beute sucht, folgen ihm die kleinen Vögel», lautet eine Weisheit der Borena-Hirten: Früher konnten arme Familien mit wohlhabenden Viehzüchtern herumziehen, in der Erwartung, dass sie von diesen mitversorgt wurden, mit Milch beispielsweise. Aber die Kühe in Borena geben keine Milch mehr. Und die Hirten haben keine Zeit mehr, grössere Herden aufzubauen und relativ wohlhabend zu werden, aufgrund der immer häufigeren Klimakrisen: Vor der jetzigen Notlage erlebten die Hirten bereits 2016 und 2011 lange Monate grosser Trockenheit. Jetzt ist das gesamte Horn von Afrika erneut betroffen.
Gerade die nomadisch lebenden Viehzüchter «drohen zu verhungern, nachdem vier aufeinanderfolgende Regenzeiten in Teilen Äthiopiens, Kenias und Somalias ausgeblieben sind – ein klimatisches Ereignis, das es seit mindestens 40 Jahren nicht mehr gegeben hat», warnt die UN-Organisation OCHA. «Die Regenzeiten von Oktober-Dezember 2020, März-Mai 2021, Oktober-Dezember 2021 und März-Mai 2022 waren allesamt von unterdurchschnittlichen Niederschlägen geprägt, so dass grosse Teile Somalias, des südlichen und südöstlichen Äthiopiens sowie des nördlichen und östlichen Kenias mit der längsten Dürre der jüngeren Geschichte konfrontiert sind. Die Regenzeit von März bis Mai 2022 ist wahrscheinlich die trockenste seit Beginn der Aufzeichnungen.»
Das abgemagerte Vieh in Borena ist fast unverkäuflich. Die Händler bleiben aus. In dem Marktflecken Dubuluk zum Beispiel wechselten früher jeden Freitag rund 6000 Ziegen, 2000 bis 3000 Rinder und 550 Kamele den Besitzer, häufig, um nach Saudi-Arabien exportiert zu werden. An Markttagen im Juni jedoch wurden nur einige hundert Rinder und Ziegen verkauft, Kamele lediglich sieben Stück.
Für die aktuelle Krise verantwortlich ist das erneute Ausbleiben der Regenzeit, die in Borena normalerweise von Mitte März bis Mitte Mai dauert. Im Durchschnitt hat es in den Bezirken der Region nur an zwei bis vier Tagen Niederschläge gegeben. In guten Jahren regnete es früher an mehr als 45 Tagen. 88 Gemeinden in der Region meldeten „nur minimale Regenfälle“. In 25 Gemeinden regnete es keinen Tropfen. «Da die Dürren häufiger und schwerwiegender werden, scheint sicher, dass die Nomaden Borenas zu Opfern des globalen Klimawandels werden, für den der Lebensstil in den reichen Ländern verantwortlich ist», sagt Kelsang Kone.
Nothilfe für Klimaflüchtlinge
Menschen für Menschen hat die Situation vor Ort in den Bezirken Dubuluk und Elwaye untersucht. Infolgedessen sind «Notfälle weit verbreitet, und es besteht das Risiko, dass die Unterernährung ein extrem kritisches Niveau erreicht und eine hohe hungerbedingte Sterblichkeitsrate auftritt». Die Stiftung hat sich entschieden, ein Nothilfeprogramm für die Familien zu organisieren, die am meisten gefährdet sind: In fünf Zentren für «Internally displaced persons» (IDPs) werden Klimaflüchtlinge versorgt, die sämtliche Nutztiere verloren haben. Die meisten von ihnen nehmen nur noch eine Mahlzeit am Tag ein, meist Maisgrütze. In drei monatlichen Verteilungen bekommen 4539 Menschen 15 Kilogramm Maismehl pro Person, einen halben Liter Speiseöl, Waschseifen und Zeltblachen.
Die saisonale Regenzeit, die im September einsetzen müsste, soll endlich Entlastung bringen, so die Hoffnung, in Verbindung mit traditionellen Bewältigungsstrategien: «Debere» bedeutet so viel wie «Abgeben». Wer noch Tiere hat, gibt zwei oder drei Stück Vieh an bedürftige Familien. Nach einem oder zwei Jahren gibt der Empfänger so viele Tiere an den Geber zurück, wie er bekommen hat.
«Nun geht es darum, das Überleben der Klimaflüchtlinge über die nächsten Monate hinweg zu sichern», sagt Kelsang Kone. «Denn in jeder Dürre und Hungersnot sind es die kleinsten Kinder, die am meisten leiden. Ihre Gesundheit und Leben sind als Erstes bedroht.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.