Zürich/Dessie, 02.02.2022 – Als die tigrayischen Rebellen die Stadt Dessie stürmten, brachte die 27-jährige Lubaba im örtlichen Krankenhaus Zwillinge auf die Welt. Sie und die Babys überlebten dank der Findigkeit ihres Mannes Jemal. Jetzt erhält die Familie Nothilfe von Menschen für Menschen – und hofft auf einen Neuanfang.
Die Front war schon nah, als Jemal Ibrahim, 40, seine hochschwangere Frau Lubaba ins Krankenhaus in Dessie brachte, das einzige weit und breit, wo der Eingriff möglich war: Der behandelnde Arzt holte Lubabas Zwillinge per Kaiserschnitt auf die Welt: Adorhaman und Abulaziz, zwei gesunde Buben. Doch die stille Freude währte nur kurz. «Zwei Stunden nach der OP war plötzlich der Strom weg», erzählt Jemal Ibrahim. «Aufregung und Panik brachen aus: Die Rebellen kommen! Ärzte und Krankenschwestern flohen.»
Jemal, ein einfacher Bauer, ist ein Mann der Tat. Er packte die neugeborenen Söhne in eine Kartonschachtel und schob das Bett mit seiner Frau durch den Flur, vorbei an verwundeten äthiopischen Soldaten, zum Ausgang, über die Strasse. Er klopfte an ein nahes Haus, es war verlassen, die Bewohner waren geflohen, aus Angst vor den tigrayischen Rebellen. Dort versteckte er seine geschwächte Frau und die Zwillinge. Noch einmal lief er zurück ins Krankenhaus, um Medikamente und Infusionsflüssigkeiten für seine Frau zu holen: «Ich hatte eine Krankenschwester beobachtet, wie sie die Lösung mischt.»
30 Tage im Versteck
Dessie, 400 Kilometer nördlich der Hauptstadt Addis Abeba, wurde Ende Oktober 2021 Schauplatz im äthiopischen Bürgerkrieg: Die Rebellen der «Tigray People’s Liberation Front» (TPLF) nahmen nach heftigen Kämpfen die strategisch wichtige Stadt ein. Viele Einwohner flohen in Richtung Süden. Als sich Jemal aus dem Haus wagte, waren die Läden geschlossen. Er klopfte an Türen, schilderte seine Lage bei Einwohnern, die geblieben waren, und bat um Nahrungsmittel. 30 Tage blieb er mit seiner Frau, den beiden Neugeborenen und seinem fünfjährigen Sohn Abubeker in dem fremden Haus.
Es war schon das zweite Mal, dass Lubaba und Jemal um das Leben ihrer Familie fürchteten: Sie sind «Internally Displaced Persons» (IDP). Tausende dieser Binnenflüchtlinge lebten schon viele Monate rund um Dessie, als die tigrayischen Kämpfer in die Region einfielen. Jemal und Lubaba sind Angehörige der Volksgruppe der Amhara. Sie waren seit April 2021 in einem Flüchtlingslager 20 Kilometer westlich von Dessie untergebracht. Aus ihrem Dorf in West Welega im Landeseil Oromia waren sie geflohen, aus Angst vor den dortigen Bewaffneten der Separatistenorganisation «Oromo Liberation Front – Shene». Menschen für Menschen versorgt die Binnenflüchtlinge in der Region Dessie nun in Zusammenarbeit mit der äthiopischen Partnerorganisation «Support for Sustainable Development» (SSD) und in Abstimmung mit den lokalen Behörden. Insgesamt erhalten 1185 Familien in vier Flüchtlingslagern Nothilfe. Unter den insgesamt 3998 Menschen sind 550 Kinder unter fünf Jahren und 206 stillende Mütter. In der letzten Januarwoche erhielten die Flüchtlinge Maismehl, Speiseöl, Waschseifen, Hygienebedarf wie Monatsbinden und Corona-Masken, daneben Bargeld zum Kauf von dringend benötigten Kochutensilien und Medikamenten. Mitte Februar soll die zweite Nothilfe-Aktion stattfinden.
Getrennt von Angehörigen
«Viele der Binnenflüchtlinge sind traumatisiert. Manche sind von Familienmitgliedern getrennt und haben kein Lebenszeichen von ihnen. Einige haben Angehörige durch Waffengewalt verloren», berichtet Getachew Zewdu, Landesrepräsentant von Menschen für Menschen, der die Nothilfeaktion vor Ort in Dessie begleitet und kontrolliert.
Jemal und Lubaba sind mit 113 weiteren Familien in einem ehemaligen Camp chinesischer Strassenbauarbeiter untergebracht. Nach einem Monat in ihrem Versteck, kurz vor der Rückeroberung der Stadt durch die äthiopische Armee, traute sich Jemal, ein Bajaj zu mieten, ein dreirädriges Motorradtaxi, um seine Frau zurück ins Camp zu bringen. Endlich sind sie mit ihrer elfjährigen Tochter und ihrem achtjährigen Sohn wiedervereint, die im Lager bei einer anderen Familie blieben, als das Paar zur Entbindung ins Krankenhaus eilte und dort von der TPLF-Invasion überrascht wurde.
Zehrende Ungewissheit
«In den kleinen Häusern im Camp leben bis zu 20 Menschen, oft fünf Familien zusammen», sagt Getachew Zewdu. Es fehle an vielem, selbst an einfachstem Hausrat wie Blechtöpfe, um Wasser zu kochen. «Aber am schlimmsten sind Frustration und Ungewissheit: Wie lange werden wir noch im Lager sein? Wo sollen wir hin? Eine Antwort auf ihre Fragen haben die Menschen nicht.» Die meisten der Binnenflüchtlinge seien Kleinbauern gewesen. «Gerade die jungen Leute sind motiviert, aber sie bräuchten Ausbildung und Startkapital, um die Lager verlassen und rund um Dessie neu anfangen zu können.»
Auch Jemal, der Vater der Zwillinge, hält Ausschau nach einer Chance für sich und seine Familie: «Ich werde mir eine Zukunft erarbeiten. Vielleicht kann ich Kleinhändler werden. Oder Fahrer eines Motorradtaxis.» Seine Findigkeit und Zähigkeit hat Jemal während der TPLF-Besetzung schon bewiesen. «Mein Mann hat mein Leben gerettet», sagt seine Frau Lubaba, während sie sich um die mittlerweile drei Monate alten Zwillinge kümmert. «Er versorgte mich mit Medikamenten und Essen, als ich schwach in dem fremden Haus lag, und oft verzichtete er selbst auf jeden Bissen.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.