Zürich/Addis Abeba, 18.03.2021 – Keine Bildung, null Chancen: Die Lage extrem armer, alleinerziehender Mütter und ihrer Kinder in Afrika scheint hoffnungslos. Doch wenn die Frauen das Sparen und Wirtschaften lernen, können sie sich eine Perspektive erarbeiten: Menschen für Menschen setzt auf Selbsthilfegruppen und auf Mikrokredite.
In Äthiopien verdient eine Frau als Hilfsarbeiterin auf dem Bau oder als Haushaltshilfe nur rund 25 Franken im Monat. Mit dem Lohn eines ganzen Tages können diese Frauen lediglich ein Kilogramm Mehl kaufen. Oder sechs Eier. Oder einen halben Liter Speiseöl. Auch Etagu Haile aus der Stadt Debre Berhan gehörte zu diesen extrem Armen: Mit ihren Jobs als Tagelöhnerin konnte die 38-Jährige ihre beiden Kinder nicht ernähren.
«Frauen ohne Schulbildung haben in Äthiopien null Chancen auf eine menschenwürdig bezahlte Anstellung», sagt Kelsang Kone, Geschäftsführer von Menschen für Menschen. «Deshalb wollen wir sie dazu befähigen, ihr eigenes Geschäft zu betreiben.»
Das Schweizer Hilfswerk hat es sich zum Ziel gesetzt, den ärmsten Kindern Lebensperspektiven zu eröffnen. Dies braucht einen ganzheitlichen Ansatz. Zum einen erhalten die Kinder Schulbedarf, Nachhilfe und in der Corona-Krise auch Lebensmittel. Langfristig kann die Entwicklung der Kinder aber nur gesichert werden, wenn die meist alleinerziehenden Mütter wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen. Also organisiert Menschen für Menschen die Mütter in Spar- und Selbsthilfegruppen.
«Gemeinsam vorankommen»
Auch Etagu Haile tat sich vor zwei Jahren mit 17 Frauen aus der Nachbarschaft zusammen. Ihrer Gruppe gaben sie den Namen «Siyalfe Waza», das heisst «Gemeinsam vorankommen». Drei Monate lang sparte jedes Mitglied wöchentlich mindestens 25 Rappen in einer gemeinsamen Kasse an – so bewiesen die Frauen ihre Motivation. Gleichzeitig lernten sie von Projektmitarbeiterinnen, wie man ein Kleinstunternehmen führt. Beispielsweise bekamen sie Unterricht in den Grundlagen der Buchhaltung.
Dann stattete Menschen für Menschen die Gruppe mit Startkapital aus – pro Mitglied mit rund 90 Franken. Die einzelnen Mitglieder konnten erste Mikrokredite nehmen. Etagu Haile war vorsichtig, nahm zunächst umgerechnet nur 50 Franken auf. Sie begann, mit Gemüse zu handeln. Diszipliniert zahlte sie ihre Schulden an die Gruppe zurück.
Nach wenigen Monaten hatte Etagu Haile ihren Kredit zurückgezahlt – damit konnte sie einen neuen erhalten. Sie fühlte sich sicherer und nahm 100 Franken auf. Etagu Haile investierte in neue Ware, zahlte den Kredit zurück und kann ihren Kindern nun ein besseres Leben bieten: Sie erwirtschaftet einen Gewinn von rund 40 Franken pro Woche. Ihr Einkommen hat sich damit mehr als versechsfacht.
Das Kapital bleibt bei den Frauen
«Entscheidend ist, dass das Startkapital nicht von uns zurückgefordert wird», betont Kelsang Kone: «Es bleibt in der Frauengruppe.» Etagu Haile zahlt wie alle Mitglieder einen Zins von fünf Prozent auf ihren Kredit – das ist sehr wenig in Äthiopien. Bei Banken sind Kreditraten von 16 Prozent oder mehr üblich. Doch dort bekommt die arme Bevölkerung gar kein Geld. Wenn die Menschen in besondere Notlagen geraten, etwa durch die Krankheit eines Familienmitgliedes, müssen sie auf den Wucher privater Verleiher eingehen – mit Zinsen von 100 Prozent oder mehr.
Durch die Zinsen auf die Kredite und Spareinlagen hat die Frauengruppe «Siyalfe Waza» das Startkapital von Menschen für Menschen in weniger als zwei Jahren mehr als verdoppelt. Damit können auch neue Mikrokredite an die Mitglieder grösser ausfallen. «Wie man hart arbeitet, wusste ich schon», sagt Etagu Haile. «Aber was meinen jetzigen Erfolg ausmacht: Wir haben gelernt, wie man spart und dass sich das Sparen auszahlt.»
Die von dem Schweizer Hilfswerk initiierten Selbsthilfegruppen (SHG) haben 15 bis 20 Mitglieder. Zurzeit gibt es in der Stadt Debre Berhan 22 Selbsthilfegruppen mit 385 Mitgliedern. Nach einiger Zeit schliessen sich vier bis fünf SHG zu staatlich anerkannten Genossenschaften zusammen. Derzeit gibt es in Debre Berhan fünf Genossenschaften mit 372 Mitgliedern.
«Im Verlauf des Projektes bekommen die Frauen in den Gremien der Genossenschaften alle notwendigen Schulungen, um selbständig weiterarbeiten zu können», erklärt Kelsang Kone. «Das Ziel ist, dass wir uns nach wenigen Jahren aus den Frauengruppen zurückziehen können.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.