Ausgebeutet in Arabien, jetzt gefangen in der Pandemie
Zürich/Addis Abeba, 04.02.2021 – In Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba leben viele Frauen, die aus arabischen Ländern in ihre Heimat zurückgekehrt sind. In der Fremde wurden sie als Hausmädchen misshandelt und ausgebeutet. Nun schlagen sie sich als Tagelöhnerinnen durch. Menschen für Menschen bildet diese besonders armen Frauen aus. Bislang bedeutete das Abschlusszeugnis als Köchin und Hauswirtschafterin eine Jobgarantie. Doch jetzt bremst die Corona-Krise den Fleiss der Frauen aus.
16 Stunden Arbeit am Tag, einbehaltener Lohn, schwere Prügel von der Familie der Hausherrin: Das alles sei Alltag gewesen, berichtet Zebiba Sultan, die als Haushaltshilfe in Beirut lebte. «Einmal bekam ich einen heftigen Schlag auf mein linkes Auge. Ich nahm lange Schmerztabletten. Heute ist das Auge fast blind, ich kann nur noch Umrisse damit sehen», ruft sie ins Mikrofon.
Die 34-Jährige hält als Vertreterin der Auszubildenden eine Rede auf der Abschlussfeier eines Intensivkurses von Menschen für Menschen. 112 frischgebackene Köchinnen und Hauswirtschafterinnen sitzen im Stadtteil Arada in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba mit Masken geschützt in einem grossen Zelt.
Gedemütigt und mittellos kehrte Zebiba Sultan aus Beirut nach Äthiopien zurück, berichtet sie: Das Geld, das sie nach Hause schickte, hatten die Eltern aufgebraucht, der Vater sei zuckerkrank. Sie heiratete, doch die Ehe glückte nicht. Der Mann trank und war gewalttätig, sie verliess ihn. Seither schlug sie sich und ihren kleinen Sohn als Tagelöhnerin durch
Die anderen Absolventinnen im Zelt haben ähnliche Biographien. Grosse Armut ist das hauptsächliche Kriterium für die Zulassung zur Ausbildung bei der Schweizer Stiftung. Der Unterricht findet halbtags statt, damit die Frauen neben der Ausbildung noch Zeit finden, Geld zu verdienen. Während der Ausbildung haben sie einen Verdienstausfall, den Menschen für Menschen mit umgerechnet etwa 17 Franken pro Monat kompensiert. Zum Vergleich: Textilarbeiterinnen in Vollzeit verdienen in Äthiopien monatlich lediglich 25 Franken.
Nothilfe verhindert Hunger
Normalerweise dauert der Intensivkurs sechs Monate. Doch im Corona-Jahr 2020 musste der Unterricht aufgrund der staatlichen Beschränkungen für acht Monate unterbrochen werden. «Es war eine sehr dunkle Zeit für uns alle!», sagt Zebiba Sultan am Mikrofon. «Wir bekamen keine Tagesjobs mehr. Niemand liess uns seine Wäsche waschen oder im Haus putzen.» Menschen für Menschen zahlte die monatliche Entschädigung für den Erwerbsausfall deshalb weiter aus – als Nothilfe: «Für viele von uns war dieses Geld das einzige Einkommen und der Grund, warum wir nicht hungerten!»
Trotz der Pandemie ist die Stimmung auf der Abschlussfeier Ende Januar hoffnungsvoll. «Ich werde jede Arbeit annehmen und habe jetzt bessere Chancen eine ordentlich bezahlte Stelle zu finden!», sagt Zebiba Sultan. Tatsächlich aber sind die Perspektiven der Frauen aufgrund des Coronavirus eingeengt. In Äthiopien ist es üblich, dass Bewerber erst eine Anlernzeit von zwei Wochen bis drei Monaten durchlaufen, bevor sie eingestellt werden.
In den Kursen vor der Corona-Krise hatten mehr als 80 Prozent der Absolventinnen sofort einen Job oder ein Praktikum in der Tasche. Von den jetzigen Abgängerinnen aber hat noch niemand eine feste Stelle gefunden und nur eine von vier Frauen hat ein Praktikum in Aussicht. Viele Restaurants mussten schliessen oder sind verschuldet und stellen keine neuen Kräfte ein. Noch schlimmer sieht es im Hotelgewerbe aus, wo normalerweise besonders viele Abgängerinnen als Kellnerinnen und Köchinnen unterkommen.
Deshalb wollen sich viele Frauen zunächst als Kleinstunternehmerinnen versuchen und Snacks und Essen für den Strassenverkauf produzieren. «Wir werden die Frauen weiter eng begleiten», sagt Ribka Fikade. Sie ist in dem MfM-Projekt zuständig für die Vernetzung der Absolventinnen untereinander und mit Arbeitgebern: «Wir haben gute Kontakte, sobald die Krise abklingt, werden wir wieder viele Stellen vermitteln können.»
Wie lange die Corona-Krise Äthiopien und Afrika noch beherrschen wird, ist ungewiss. Die WHO rechnet mit einem starken Anstieg der Ansteckungen in den kommenden Wochen. Dafür verantwortlich ist nicht nur die fehlende Impfgerechtigkeit, weil sich die reichen Länder die Impfstoffe sichern. Auch die Armut spielt eine grosse Rolle: In den Slums sind die Wohnverhältnisse beengt. Menschen ohne Ausbildung können sich nicht ins Home-Office zurückziehen. Sie müssen im informellen Sektor, etwa auf Baustellen und Märkten, arbeiten, um zu überleben.
Hinweis: Interviews mit Absolventinnen des Hauswirtschaftskurses und Projektmitarbeitenden in Addis Abeba sind per Videocall möglich.
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.