Zürich/Debre Berhan, 23. Juni 2020 – Während in Europa die Regierungen Corona-Regeln lockern, ist in Afrika keine Erholung in Sicht. Durch die Pandemie-Beschränkungen fallen die Menschen in extreme Armut zurück. Bereits erzielte Entwicklungserfolge sind bedroht, warnt die Schweizer Stiftung Menschen für Menschen: Mitten in den Metropolen Äthiopiens hungern Familien und sind auf Nothilfe angewiesen.
Zum Jahreswechsel sah Mimi Goshime aus der äthiopischen Grossstadt Debre Berhan für sich endlich eine hellere Zukunft. Gerade war sie mit Mann und vier Kindern aus einem Slum-Verschlag in zwei Räume eines neuen Lehmhauses eingezogen, wie Menschen für Menschen sie für die ärmsten Familien in der Stadt errichtet. Die Kinder hatten von der Schweizer Stiftung Schulmaterialien erhalten und konnten zur Schule gehen – früher mussten sie zu Hause bleiben, weil die Eltern kein Geld für Schulhefte hatten. Zwar kann Mimi Goshimes Ehemann nicht mehr als Träger arbeiten, nachdem er einen 100-Kilo-Sack Getreide auf seinen Rücken lud und dabei seine Wirbelsäule verletzte. Aber mit einem Mikrokredit von Menschen für Menschen vermochte Mimi Goshime ein eigenes Gewerbe zu beginnen. Sie stellte «Kollo» her, einen beliebten Snack. Die Gründerin röstete Weizenkörner und verkaufte sie in kleinen Säckchen im Strassenverkauf: «Das Geschäft lief gut. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht minderwertig: Ich war sicher, es aus eigener Kraft zu schaffen.»
Aber dann kam Covid-19. Die Regierung reagierte auf die Pandemie mit der Verhängung des Ausnahmezustandes und vielen Restriktionen. Bislang zeigen die Massnahmen offenbar Wirkung. Erst 4663 Menschen wurden positiv getestet. 75 Todesopfer hat das Land zu beklagen. Die Begleitschäden jedoch sind für die ärmste Bevölkerung unerträglich. Die Ärmsten arbeiten als Tagelöhner oder Kleinstunternehmer im informellen Sektor, wo nun Aufträge und Einkünfte ganz wegbrechen. «Die Menschen haben Angst», sagt Mimi Goshime: «Niemand will mehr meine Snacks kaufen.»
Erschwerend kommt hinzu, dass die Lebensmittelpreise seit Beginn der Corona-Krise um mehr als ein Drittel gestiegen sind. Gewöhnlich essen die Menschen in Äthiopien Injerra, säuerliches Fladenbrot, mit dicken Saucen aus proteinreichen Hülsenfrüchten neben Gemüse. «Wir essen jetzt fast nur noch gekochten Weizen und Mais», sagt Mimi Goshime mit Tränen in den Augen. «Ich mache mir grosse Sorgen, dass Corona uns wieder in unsere alte Armut zurückstürzt.»
Ausnahmezustand führt zu Nahrungsmangel
In Europa heben die Regierungen Reisebeschränkungen auf. Die Wirtschaft wird mit Milliardeninvestitionen gestützt. Viele Kleinstunternehmer in der Schweiz erhielten Notkredite oder Erwerbsausfallentschädigungen von der öffentlichen Hand – auf solche Unterstützung kann Mimi Goshime in einem der ärmsten Länder der Welt nicht zählen. «Deshalb haben unsere Sozialarbeiterinnen die allerärmsten 206 Kinder in der Stadt identifiziert», erklärt Kelsang Kone, Geschäftsführer von Menschen für Menschen. Pro Kind wurden in Lebensmittelpaketen Weizenmehl (15 kg), Teigwaren, Reis und proteinreiche Hülsenfrüchte (je 3 kg), neben Speiseöl und Waschseifen an die Familien verteilt. Schon vor der Corona-Krise litten viele Kinder unter Nahrungsmangel. Laut Statistik ist in Äthiopien eines von vier Kindern unterernährt. Das bedeutet per Definition, dass beispielsweise ein zweijähriges Kind mehr als drei Kilogramm zu wenig wiegt im Vergleich zu normal entwickelten Altersgenossen. In Folge werden die Kinder leichter krank: Fast jedes zehnte Kind in Äthiopien leidet an akuten Atemwegsinfektionen. Eines von 18 Kindern in Äthiopien stirbt vor seinem fünften Geburtstag. Es gibt derzeit keine Anzeichen einer Entspannung der Corona-Situation im Land. «Wir werden die Nothilfe monatlich fortsetzen, solange es die Krise erfordert», sagt Kelsang Kone. «Dabei sind wir auf die Unterstützung unserer Spender angewiesen.»
Sorge bereitet Menschen für Menschen auch die mentale Gesundheit der Kinder. Die Schulen sind seit mehr als drei Monaten geschlossen. Die Kinder leiden in der Enge der Slum-Wohnungen unter Langeweile, manche entwickeln Aggressionen, einige auch Angst und Niedergeschlagenheit aufgrund der sorgenvollen Stimmung in Elternhaus und Nachbarschaft, berichtet Kelsang Kone: «Deshalb haben wir Erziehungstipps speziell für die Corona-Zeit entwickelt.» Die Sozialarbeiterinnen im Projekt unterrichten die Eltern bei ihren Besuchen in den Wellblechvierteln. «Sie ermuntern die Eltern, mit ihren Kindern zu spielen, ihnen Geschichten zu erzählen, mit ihnen spazieren zu gehen», sagt Kelsang Kone. «Gerade jetzt ist ein gutes Miteinander in den ärmsten Familien entscheidend, damit die Kinder ohne körperliche und seelische Schäden durch die Krise kommen.»
Über die Stiftung Menschen für Menschen
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.