Vor zehn Jahren, am 29. Mai 2014, starb Karlheinz Böhm, der Gründer von Menschen für Menschen. Sein Werk lebt weiter. Tausende Familien lassen jedes Jahr ihre extreme Armut hinter sich, dank Böhms Konzept der «Hilfe zur Selbstentwicklung» – und unserer grosszügigen Unterstützerinnen und Unterstützer in der Schweiz. Wer war dieser Mann und wie kam es zu seiner radikalen Entscheidung, das Hilfswerk zu gründen?
«Tausendfünfhundert Menschen hatten sich in elendigen winzigen Hütten angesammelt, grosse Familien, zusammengepfercht auf sechs bis sieben Quadratmetern. Sie trugen nur schmutzige Fetzen am Körper, und viele, selbst die jüngeren Männer, stützten sich auf Stöcke, weil sie nicht die Kraft hatten, sich auf ihren Beinen zu halten». So beschrieb Karlheinz Böhm (1928 – 2014) in seiner Autobiographie «Mein Weg» seine ersten Eindrücke in Äthiopien, in einem Flüchtlingslager in der staubigen Landstadt Babile im Osten des Landes. Bei den Geflüchteten handelte es sich um Halbnomaden, die durch Dürren und den Krieg mit Somalia ihrer Weiden und Herden beraubt wurden. Böhm wollte helfen. Aber wie?
Noch wenige Monate zuvor hatte der 53-Jährige keine Vorstellung von Äthiopien, dem riesigen Land am Horn Afrikas. Der Schauspieler hatte in knapp vier Dutzend Kino- und Fernsehfilmen mitgewirkt und in unzähligen Theateraufführungen. Mit seinen ersten Gagen kaufte er ein Bauernhäuschen in Cureggia über dem Luganersee, seinem «kleinen Paradies», wie er es nannte, wo er sieben Jahre lang zu Hause war.
Die radikale Wende, für die er sich in seinem sechsten Lebensjahrzehnt entschied, hätte sich wohl kaum ein Drehbuchschreiber einfallen lassen. Zu unwahrscheinlich wäre ihm die Geschichte erschienen: Ein Star hängt die Schauspielerei an den Nagel, um Menschen für Menschen zu gründen und fortan ehrenamtlich und unentgeltlich für die ärmsten Familien der Welt zu arbeiten.
Geboren als Sohn des berühmten Dirigenten Karl Böhm, aufgewachsen teils in einem Internat in Zuoz im Engadin, brachte es Karlheinz Böhm selbst früh zu Berühmtheit. An der Seite von Romy Schneider wurde er in der Rolle als österreichischer Kaiser Franz Joseph zum Idol. Bis heute wirken diese Sissi-Filme nach: Das Einschalten der Wiederholungen im Fernsehen ist für viele Menschen Jahr um Jahr ein fester Bestandteil von Weihnachten.
Woran Böhm seinen Anteil hat: «Wer sich Sissi genauer ansieht, entdeckt nicht durchgehend einen zu süssen Kaiserschmarrn, sondern einen hochprofessionellen Unterhaltungsfilm, der sich auch auf Schatten versteht», urteilt «Der Spiegel». «Gerade Böhm vermittelt in vielen Szenen einen Hauch von Resignation, eine Unerlöstheit vom Druck gesellschaftlicher und verwandtschaftlicher Autoritäten. Er spielt einen Monarchen, der im Grunde nicht sein darf, was er in seinem einsam-romantischen Herzen gern wäre .» Böhm sagte selbst von sich, er sei viele Jahrzehnte lang ein Suchender gewesen – bis er schliesslich mit Menschen für Menschen zu seiner wahren Bestimmung fand.
Zunächst aber suchte er seine Bestätigung als Charakterschauspieler. Er wollte mehr sein als ein Kaiser-Darsteller im Operetten-Kostüm. «Der Star zertrümmerte sein Image und brüskierte seine Fans», konstatierte «Der Spiegel» weiter: In dem englischen Thriller »Augen der Angst« (1960) spielte Böhm einen Serienmörder. Doch der Film war seiner Zeit voraus, floppte zunächst bei Kritikern und Publikum. Erst Jahrzehnte später wurde der Film als Meisterwerk wiederentdeckt. Die New York Times nahm ihn in eine Liste der besten Filme aller Zeiten auf. In den siebziger Jahren nutzte der Regisseur Rainer Werner Fassbinder «die Strahlkraft Böhms» für seine sozialkritischen Filme. Die Wende in seiner Karriere, die Gründung der Äthiopienhilfe, so «Der Spiegel» , war «für die Bewohner des Landes ein Segen, für das Kino ein herber Verlust».
Geplant war die Äthiopienhilfe nicht von langer Hand, im Gegenteil, sie war mehr dem Zufall geschuldet – und den Zuschauern von «Wetten, dass ..?», die Fernsehshow des Moderators Frank Elstner. «Vielleicht war ich nie zuvor in meinem Leben so aufgeregt, wie an jenem Abend des 16. Mai 1981», schrieb Böhm in seiner Autobiographie. Er hatte einige Monate zuvor im Fernsehen eine Dokumentation über die Dürre in der Sahelzone gesehen: «Es war das erste Mal, dass ich von der unvorstellbaren Armut und dem Sterben der Menschen dort erfuhr.» Nun sah er eine Chance, etwas dagegen zu tun, als Gast in der Show. Böhm wettete, dass nicht einmal jeder dritte Zuschauer einen Franken für die Hungernden spenden würde. Zwar gewann Böhm die Wette. Dennoch war die Hilfsbereitschaft enorm. Karlheinz Böhm flog mit 1.2 Millionen Franken nach Äthiopien, um zu helfen – das war der Beginn von Menschen für Menschen.
Mit der Chuzpe des Neulings fragte Böhm die Machthaber, ob sie Land zur Verfügung stellten, damit er die geschwächten Halbnomaden aus dem Hungerlager in Babile in das nahe gelegene Erer-Tal umsiedeln könnte. Das Erstaunliche passierte: Seine Schützlinge durften in das Tal. Dort ist die Erde fruchtbar. 2100 Menschen konnten unter Anleitung der von Böhm angeworbenen äthiopischen Mitarbeiter als unabhängige Bauern neu anfangen.
Die ersten Siedler nannten ihr neues Dorf «Nagaya» («Frieden»). Auf seiner Reiseschreibmaschine schrieb Karlheinz Böhm regelmässig seine Erlebnisse nieder, um seine Spenderinnen und Spender über die unfassbare Armut zu informieren. Aus seinen Berichten ging das NAGAYA MAGAZIN hervor, das bis heute die Fortschritte der Projektarbeit von Menschen für Menschen dokumentiert.
Anfangs belächelte die Fachwelt das Projekt im Erer-Tal. Da kam einer, der keine Entwicklungsarbeit studiert hatte und wollte es besser machen! Aber das Projekt zeigte bereits 1983 erste Erfolge, als die Familien gute Ernten erzielten. Auf die Frage, wie er diesen ersten und noch viele weitere Erfolge erreichte, trotz aller Kulturbarrieren, sagte Böhm: «Es geht darum, die Sprache zu sprechen, die auf der ganzen Welt gesprochen und verstanden wird: die Sprache des Herzens.»
Was braucht ihr? Was seid ihr bereit, dafür zu tun? Das waren seine zentralen Fragen. Dann half Menschen für Menschen mit materieller Hilfe und mit Schulungen. Damit sich die Menschen selbst aus ihrer Armut herausarbeiten können. Diese «Hilfe zur Selbstentwicklung» wurde und bleibt die Basis aller Projekte.
Böhm erlebte viele Ehrungen für sein Lebenswerk, aber die wichtigste Auszeichnung war ihm wohl der Balzan-Preis, den er 2007 in Bern entgegennahm, und zwar «für sein Lebenswerk im Dienst der Humanität und des Friedens, für sein ungewöhnliches persönliches Engagement, für sein ausserordentlich erfolgreiches Netz von konkreten Fördermassnahmen in Äthiopien, einem der ältesten und ärmsten Kulturländer der Erde», wie es in der Begründung hiess: «Karlheinz Böhm hat sich in der Mitte einer höchst erfolgreichen Schauspielerkarriere entschlossen, mit seinem gewohnten Leben radikal zu brechen und sich für ein grosses humanitäres Projekt in Äthiopien zu engagieren, das er aus kleinsten Anfängen selbst aufgebaut hat.»
Es sei ihm gelungen, einen grossen Kreis von Menschen zu motivieren und damit die Grundlage für ein humanitäres Förderwerk zu schaffen, das bis dato «den Bau von 173 Schulen, Schulwohnheimen, Berufsbildungszentren, Krankenstationen und 3 Spitälern ebenso umfasst wie landwirtschaftliche und agroökologische Projekte, den Bau von Wasserstellen, Strassen und Brücken, Aufklärungsprogramme gegen Frühverheiratung und Mädchenbeschneidung sowie Ausbildungs- und Kleinkreditprogramme zur Besserstellung der Frauen in der äthiopischen Gesellschaft.» Und abschliessend: «Karlheinz Böhm ist ein grosses Beispiel dafür, was das Engagement eines Einzelnen in unserer Welt bewirken kann.»
Bleibt die Frage, warum ein Mann von 53 Jahren sein Leben derart ändert. Als Antrieb und Motivation für sein dauerhaftes Engagement nennt er in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung «das Wort mit drei Buchstaben – Wut. Seine Wut nämlich über die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in dieser Welt.» Es gehe darum, seinen Zorn kreativ in die Tat umzusetzen: «Mit Reden allein ist ja niemandem geholfen.»
Im aktiven Dasein für andere erlebte er, was er als Schauspieler offenbar nicht in dieser Tiefe fand: «Ich habe in Äthiopien meinen Lebenszweck gefunden. Es gibt meinem Leben einen Sinn, weil ich weiss, dass das, was ich tue, anderen Menschen zugutekommt.“ Oder in drei Worten: Helfen macht glücklich.
Wer aber wirtschaftliche Argumente brauchte, dem gab Karlheinz Böhm auch diese an die Hand – in einer Klarsicht, die auch fünfzehn Jahre später nichts von ihrer Aktualität verloren hat. In einem seiner letzten Interviews sagte der Gründer von Menschen für Menschen: «Fast ein halbes Jahrtausend hat man mit dem Kolonialismus die Menschen und jede Art von Entwicklung unterdrückt. Wir müssen Afrika auch dahingehend unterstützen, dass sich der Kontinent als Wirtschaftspartner entwickeln kann. Wenn wir das vergessen, werden wir eine bittere Rechnung bezahlen. Dass Afrika auch ein Absatzmarkt sein könnte, scheint ausser den Chinesen bis jetzt niemand verstanden zu haben.»
Was von Karlheinz Böhms Beispiel weiter besteht: Es kommt auf jeden einzelnen Menschen an. Wir können alle etwas beitragen zu einer gerechteren Welt. «Was man in seinem Leben getan hat, lebt weiter!» sagte Karlheinz Böhm einmal: Er glaubte fest daran, dass das Gute bleibt.