In Südäthiopien wird die Ensete auch «Pflanze gegen den Hunger» genannt. Den Menschen gilt das aus der Staude gewonnene Kotcho als Superfood. Das Nahrungsmittel sichert Millionen Menschen das Überleben.
Diese Speisekarte würde auf eine Briefmarke passen. Morgens gibt es einen Pfannkuchen, gebacken aus Kotcho-Teig. Das Mittagessen fällt aus, wie immer. «Wir müssen mit unseren Vorräten haushalten», sagt Worke Zeru, die Hausfrau. Abends gibt es zwei runde, flache Brötchen pro Person, gebacken ebenfalls aus Kotcho. Dazu eine Handvoll gekochten Kohl: So sah der Speiseplan gestern aus und heute wieder. Morgen wird es nicht anders sein. An guten Tagen, die selten sind, isst die Familie auch ein paar Kartoffeln dazu.
Hauptsächlich ernährt sich die Familie von Worke Zeru wie Millionen Menschen in Südäthiopien von einem Nahrungsmittel, von dem der Rest der Welt so gut wie nie gehört hat: «Nur Gott weiss, wie wir ohne Kotcho überleben würden!», sagt Worke Zeru.
Die 43-Jährige hockt in ihrer Rundhütte, das Dach aus Ästen, Zweigen und Gras ist russgeschwärzt. Von dem kleinen Feuer am Boden steigt beissender Rauch auf. Auf einem Holzbrett knetet sie einen Teig. Das ist Kotcho, hergestellt aus einer der Ensete-Pflanzen, deren Blätter hinter der Hütte in sattem Grün strotzen und sich erstaunliche sieben bis neun Meter hoch strecken.
Überall in Worke Zerus Heimatdistrikt Hambela Wamena sieht man schiefe Hütten in der rostbraunen Erde, umstanden von den üppig in den Himmel schiessenden Ensete ventricosum. Das Riesenkraut dient in den Gewächshäusern und Botanischen Gärten Europas nur als schmückendes Beiwerk, weshalb sie hierzulande auch als «Zierbanane», «Abessinische Banane» oder «falsche Banane» bezeichnet wird, denn der Laie verwechselt sie leicht mit der Obststaude. Die Ensete ist weder Strauch noch Baum. Sie hat keinen holzigen Stamm, trotz ihrer enormen Höhe. Ihre Stabilität ziehen die Stauden aus ihren Blattscheiden, die eng aneinander liegen und einen Pseudostamm bilden – und die Überlebensgrundlage von rund 24 Millionen Menschen in Südäthiopien.
Aus der Wurzelknolle und den Blattscheiden das nahrhafte Kotcho (gesprochen «Kotscho») zu gewinnen, ist eine sehr anstrengende Arbeit. Worke Zeru nutzt dafür die frühen Morgenstunden, wenn die Temperaturen noch angenehm sind. Mit dem Haumesser schlägt sie die Blätter in zwei Metern Höhe ab. Dann legt sie die einzelnen Blattscheiden und mit Hilfe der Machete auch die Wurzelknolle frei. Eine halbe Stunde dauert das.
Worke Zeru ist eine kleine, zierliche Frau, und doch trägt sie die Blattscheiden und die zentnerschwere Knolle oft allein zum Schabplatz. Manchmal hilft ihr eine Tochter oder Schwiegertochter. Zunächst befestigt die Bäuerin die einzelnen Blattscheiden auf einem schräg stehenden Brett. Mit einem Holzwerkzeug schabt sie das kohlenhydratreiche Pflanzengewebe mit rhythmischen Bewegungen ab. Bald perlt Schweiss auf ihrem Gesicht, sie atmet zischend ein und aus wie ein Kraftsportler, bis nur noch die Faserreste der Blattscheide übrig sind – daraus können später starke Seile für die Landwirtschaft oder zum Zusammenbinden der Dächer gedreht werden. Auf den ausgebreiteten Ensete-Blättern auf dem Boden liegt nun das wertvolle Schabgut: Kotcho, das stärkereiche Mark der «falschen Banane».
Die Frage drängt sich auf, warum nicht Männer diese schwere Arbeit tun. «Mein Mann hat nach einem Unfall eine kaputte Schulter», sagt Worke. Aber auch wenn er gesund wäre: Niemals würde sie ihn um Hilfe bitten, das sei undenkbar. Sie möchte nicht zum Gespött der Dorfgemeinschaft werden. «So ist unsere Kultur», sagt sie. «Die Männer kümmern sich um das Pflanzen und Jäten in den Ensete-Gärten, wir Frauen sind dafür verantwortlich, das Essen vorzubereiten.»
Nach den Blattscheiden kommt die Knolle dran. Workes Werkzeug hat eine gezackte Spitze, die an ein Zahnrad erinnert. Damit zerhackt sie die riesige Knolle. Ihr Bizeps hüpft, ihr Atem pfeift, bald ist sie über und über bedeckt von weisslichen Pflanzenteilen. Der Haufen mit dem wertvollen Mark am Boden wird immer grösser. Tochter und Schwiegertochter haben ein Stück weiter im Garten bereits eine kleine Grube vorbereitet und sie mit Enseteblättern ausgeschlagen. Das Mark wird in die Grube gelegt und mit weiteren Blättern abgedeckt. In dieser Grube darf das Kotcho jetzt 20 bis 30 Tage reifen, mit mikrobiologischer Hilfe: Um die Fermentation zu beschleunigen, füllen die Bäuerinnen etwas Ensete-Brei zu, der bereits einige Tage früher angesetzt worden ist. Eine niederländische Studie fand bei der Fermentation des Marks bis zu 29 verschiedene kultivierbare Mikroorganismen beteiligt, darunter 12 Hefespezies und 17 Milchsäure- und andere Bakterienspezies. Die Hefen und Bakterien schliessen die Nährstoffe auf, sorgen für Haltbarkeit und Geschmack.
Schlaue Hausfrauen wie Worke Zeru haben in mehreren Erdlöchern die kohlenhydratreiche Masse an verschiedenen Tagen angesetzt, so dass sie jederzeit backen können. Jetzt holt Worke eine Portion ausreichend fermentierte Pulpe aus der Grube, um sie zu waschen: Mit Hilfe von Wasser spült sie faserige Anteile aus. Dann schlägt Worke den Brei erneut in Enseteblätter ein und legt ihn unter einen schweren Stein. So wird die überschüssige Flüssigkeit ausgepresst. Nach drei Stunden kann der Kotcho-Brei dann in der Hütte zu Pfannkuchen und Brot verarbeitet werden.
Worke ist mit ihren 43 Jahren schon Grossmutter, sie hat mit 16 geheiratet, wie viele arme Mädchen hier. Enkelin Anany und Enkel Soressa, beide um die drei Jahre alt, tapsen in ihrer Rundhütte um das offene Feuer herum, maunzen ungeduldig, bis die Fladen ausgebacken sind. Mit spitzen Fingern holt Worke sie vom Feuer, pustet darauf, gibt sie den Kindern. Das Quengeln verstummt.
Die Kotcho-Produkte schmecken ganz ähnlich wie Fladen aus Getreide, aber einen Hauch säuerlich. Kotcho ist reich an Kohlenhydraten, nur über dieses Lebensmittel kann Workes Familie den täglichen Kalorienbedarf decken. Durch die Fermentation entwickelt Kotcho probiotische Superfood-Eigenschaften, es fördert eine gesunde Darmflora und unterstützt die Verdauung. Aber wichtig für die Menschen in Südäthiopien ist es vor allem, weil es vor schlimmem Hunger bewahrt. Es kann lange gelagert werden, ohne zu verderben, was es zu einer verlässlichen Nahrungsquelle in Zeiten von Nahrungsmittelknappheit macht – und die beträgt für die meisten Familien rund ein halbes Jahr. Wichtige Lebensmittel wie Mais, Gerste, Bohnen oder Kichererbsen werden ab Oktober geerntet, die schmalen Ernten reichen nur für ein paar Monate. Umso wichtiger wird Kotcho, wenn die sonstigen Vorräte aufgebraucht sind.
Doch Kotcho ist arm an Proteinen. Wohl deshalb wirken die Kinder in Hambela Wamena oft zu klein für ihr Alter: Eine Ergänzung durch regelmässig eingenommen proteinreiche Lebensmittel wäre wichtig, um eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Aber Hülsenfrüchte sind teuer auf den lokalen Märkten.
Nach den Pfannkuchen formt Worke Brötchen aus dem Kotcho-Teig und backt auch diese. Sie arbeitet flink, man spürt, sie möchte fertig werden. «Ich muss wieder raus in den Garten», sagt sie. «Ich will nach dem frisch gewaschenen Kotcho schauen, ob der Stein die Flüssigkeit gut auspresst.»
Das Projekt
In Hambela Wamena versucht Menschen für Menschen für die Bevölkerung Nahrungsmittelsicherheit herzustellen. Neben der Viehwirtschaft und dem Getreidebau fördert die Stiftung auch die Kultivierung der Ensete-Stauden mit Schulungen und Pflänzlingen. 500 Familien bekommen Schulungen und je 300 Sämlinge. Um die Versorgung mit Proteinen zu verbessern, unterstützt Menschen für Menschen den Anbau von Hülsenfrüchten. In Schulungen werden die Kleinbauern über gesunde Ernährung informiert.